Lästern in der Teeküche adé: Ein Plädoyer für alte Tugenden
In ihrer Straße gibt es einen Antiquitäten-Laden mit Sammeltassen. EKD-Kulturbeauftragte Petra Bahr glaubt: Genauso wie manche alten Accessoires, können auch alte Tugenden wieder modern sein. In ihrem Buch "Haltung zeigen. Ein Knigge nicht nur für Christen" entdeckt sie christliche Tugenden, die auch heute noch Halt geben können.
12.11.2010
Die Fragen stellte Lilith Becker

In der Einleitung ihres Buches rechtfertigen Sie das verstaubte Thema "Tugenden" mit dem Argument: Die Sammeltassen ihrer Großmutter seien ja auch schon wieder modern. Ist das nicht ein Zirkelschluss?

Petra Bahr: Alte Dinge mögen auf den ersten Blick aus der Mode geraten und verschwinden. Das ist für eine Weile entlastend. Oft wird daraus aber ein schmerzhafter Verlust. So ist es, glaube ich, mit den Tugenden. Der Hinweis auf meine Großmutter soll zeigen, dass Lebenshaltungen Vorbilder brauchen, damit man sie sich abgucken kann. Das ist eben nichts, was man predigen kann oder was man in Anweisungen formuliert. Sondern das ist etwas, was einem im Leben begegnen und dann stilprägend wirken kann.

Aber ihre Einleitung handelt 30 Seiten lang von ihrer Großmutter. Ist das nicht rückwärtsgewandt?

Bahr: Ich bin bewusst so altmodisch eingestiegen. Auch, weil diese Generation der Frauen bei uns überhaupt keine gute Lobby hat. Die sogenannte Kriegsgeneration. Das sind entweder Trümmerfrauen oder Großmütter. Was sie geleistet haben, wird in Deutschland kaum erinnert. Da stehen die großen Männer im Mittelpunkt. Diese Frauen tragen übrigens bis heute auch unsere Kirche. Im übrigen haben Enkel meistens keine Probleme mit ihren Großeltern. Rückwärtsgewandt wäre diese Besinnung auf das Erbe nur, ohne einen Beitrag für die Zukunft zu zeigen.

Ihr Buch heißt: "Ein Knigge nicht nur für Christen." Sie benutzen jedoch ein Zitat des kirchenpolitischen Reformators Philipp Melanchton, dass das Gebet als "Kerntugend" definiert. Was können Christen und Nichtchristen daraus mitnehmen?

Bahr: Tugenden haben im allgemeinen Verständnis immer etwas mit Handeln zu tun. Beim Beten geht es aber nicht um Aktivismus. Sondern um das Lassen. Das Beten ist eine Haltung, die vor allem empfängt. Man öffnet sich gegenüber Gott. Den kann man nicht zwingen oder kalulieren. Und deswegen ist das Gebet auch in gewisser Weise der Kreuzstrich durch die Idee, dass christliches Leben mit dem Machen beginnt. Es beginnt mit dem Lassen. Das wollte Melanchthon sagen.

Warum hatten Sie das Gefühl, dass ein Buch über Tugenden her muss?

Bahr: Alle reden von Werten. Gleichzeitig macht sich eine seltsame Müdigkeit breit: Die ständige Klage über den sogenannten Werteverfall geht vielen auf die Nerven. Sie merken, dass es nichts bringt immer nur zu klagen und mit dem Finger auf andere zu zeigen. Und gleichzeitig bemerke ich so etwas wie eine Orientierungsnot. Unsere Gesellschaft ist in einem merkwürdigen Sinne entmoralisiert und übermoralisiert zugleich. Einerseits biegt man sich die Dinge so zurecht, dass man gerade noch mit heiler Haut durch Situationen durchkommt. Und andererseits müssen die ganz großen Begriffe her: Solidarität und Gerechtigkeit, christliches Abendland und Menschenwürde. Aber was heißt das? An den Tugenden finde ich aufregend, dass es Haltungen sind, die es ohne die, die sie zeigen, gar nicht gibt. Sie entfalten erst in einer lebendigen Alltagswelt ihren Glanz. Und deswegen habe ich auch meiner Großmutter dieses Buch gewidmet, weil sie das kulturkritische Lamento furchtbar langweilig fand.

Sie schreiben, dass viele nicht glauben, dass man mit den christlichen und abendländischen Tugenden den "gegenwärtigen großen Herausforderungen" begegnen könne. Von welchen Herausforderungen sprechen Sie?

Bahr: Tugenden wie Dankbarkeit oder Demut wirken lächerlich klein angesichts der gesellschaftlichen Diskussionen die wir führen über Globalisierung oder Integration. Und ich denke, dass man großen Herausforderungen nur begegnen kann, wenn jeder im Alltag Haltung zeigt, die in unsicheren Lagen Halt geben. Das Leben ist ja verzwickt. Schwarz und weiß nehmen tausend Grauschattierungen an. Es geht also gar nicht darum gleich die ganze Welt verändern zu wollen. Sondern um eine Haltung, Freude an dem zu haben, was sein soll. Dazu gehört übrigens auch die Einsicht ins Scheiternkönnen, die Vergebungsbereitschaft und das Neuanfangenkönnen. Und der Humor. Wer sich selbst nicht so ernst nimmt, kann großzügiger mit Anderen sein.

Wie kann man im Alltag mit der Tugend beginnen?

Bahr: Beispielsweise der Begriff der Freiheit: In der Verfassung steht er als abstraktes politisches Versprechen. Freiheit im Sinne einer Tugend bezeichne ich als „Freimut“. Das meint die innere Haltung, die sich einen Ruck gibt und nicht macht, was üblich ist. Ein Beispiel, das fast jeder kennt, ist die typische Bürosituation: Da stehen vier in der Teeküche. Was als harmlose Lästerei beginnt, wächst sich zu einer fiesen Freude auf Kosten eines Kollegen aus. Wer sich hier mal kurz selbst über die Schulter guckt, eine Sekunde besinnt und das Gespräch auf andere Themen lenkt, unterbricht einen kleinen Teufelskreis. Das ist wahrhaft keine Revolution und hat auch nichts Heroisches. Aber wer in diesen Momenten Freimut übt, traut sich vielleicht auch dann mit der Sprache heraus, wenn es um was geht. Das fühlt sich für den Moment sogar ganz gut an. Endlich kapituliert man nicht mehr davor anders sein zu müssen oder zu wollen. Oder die Sorge haben zu müssen, dass wenn man nicht ganz glatt durchgeht, dass man dann negative Konsequenzen spüren muss. Wir sind ja trotz all der Freiheit eine ziemlich ängstliche Gesellschaft. Die Haltung des Freimutes löst den riesengroßen Begriffe von der christlichen Freiheit in kleiner Münze ein.

Sie schreiben, dass man für Werte wie Achtsamkeit, Güte, und Gelassenheit mittlerweile Bonuspunkte bei der Krankenkasse bekommt. Und viele wüssten gar nicht, dass es diese fernöstlichen Importe auch im Christentum gebe. Beleidigt Sie, dass viele heute den Buddhismus mit positiven Werten verbinden und das Christentum da außen vor bleibt?

Bahr: Nein, das soll sich nicht beleidigt anhören. Es geht mir nur darum zu erinnern, auf welchem kulturellen und religiösen Schatz wir sitzen. Wenn ich mit Leuten spreche, die nicht mehr so ganz nah an der Kirche sind, dann merke ich, dass sie einem christlichem Lebensstil oft sehr skeptisch gegenüberstehen. Aber mit großer Begeisterung lesen sie Bücher über Achtsamkeit oder Geduld. Und wenn man dann nachfragt, wo diese Traditionen herkommen, wird immer gesagt: Naja, unserer Welt fehlt das ja, das kommt ja alles von ganz woanders her. Und deshalb finde ich es wichtig daran zu erinnern, dass wir diese Haltungen in der christlichen Tradition auch haben. Sie werden nur schlicht vergessen oder nicht mehr eingeübt. Das ist natürlich auch eine Anfrage an die Kirche. Und damit an mich selbst.

Kann das Christentum seine Werte nicht so schön verpacken, wie der fernöstliche Yoga-Import es beispielsweise kann?

Bahr: Das Christentum sollte sich nicht isoliert als geistliches Wellnessangebot verkaufen, weil es die christliche Existenz immer nur als Ganzes gibt. Und da muss man eben zwischendurch auch mal mit alten Mütterchen in einer Kirche sitzen, die nicht besonders schön herausgeputzt ist. Und dann hat man es in einem Gottesdienst eben mal mit einem Prediger zu tun, der nicht besonders gut vorbereitet ist. Trotzdem sollten wir in der Kirche die religiösen Sehnsüchte und die Fragen nach sinnvollen Lebensformen sehr ernst nehmen und die religiöse Kraft nicht ausschließlich in Diskursen verenden lassen. Theologische Vernunft, ein verantwortlicher Lebensstil und tiefe religiöse Erfahrungen gehören zusammen.

Aber versuchen Sie nicht gerade auch, mit ihrem Buch, den alten christlichen Tugenden eine neue Verpackung zu geben?

Bahr: Ich würde es nicht Verpackung sondern Entdeckung nennen. Auch für mich selber ist es eine Entdeckung. Das Problem an Tugenden ist, dass man sie sich nicht verkaufen lassen, sondern eher einwickeln. Tugenden zu verordnen funktioniert nicht.

Was würden Sie sich wünschen, wozu soll ihr Buch einen Beitrag leisten?

Bahr: Christinnen und Christen sollten sich nicht „zusammenreißen“ oder mit gebeugtem Rücken und angestrengtem Blick durch die Welt gehen. Sie sollten sich anstecken lassen von der Freude an dem, was sein soll. Das verändert den Blick auf ethische Debatten, aber auch auf die eigenen Lebenshaltungen. Aus dem „Du musst“ wird ein „Du kannst!“. Ich glaube, dass eine Gesellschaft weniger ermüdet und schwerfällig ist, wenn man mitgestaltet und sich nicht nur entrüstet darüber, was „die da“, egal ob oben oder unten oder in der Nachbarschaft, mal wieder nicht richtig gemacht haben. Dazu braucht es keine neue Ordnung, sondern Mut und Fantasie zu einem neuen Gemeinsinn, der den Eigensinn und das Individuum achten kann.
 


Petra Bahr ist Pfarrerin und Kulturbeauftragte der EKD. Ihr Buch "Haltung zeigen. Ein Knigge nicht nur für Christen" ist 2010 im Gütersloher Verlagshaus erschienen. Es kostet 14 Euro 99.