Es dauert ein paar Sekunden, bis Nikolaus Schneider das Ergebnis verstanden hat. Dann ein erleichtertes Lächeln, ein Blick zur Seite, die erste Umarmung: Der 63-jährige Theologe ist soeben mit beeindruckender Mehrheit zum Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gewählt worden. "Ich fühle mich durch diese Wahl gestärkt, unterstützt und mit dem nötigen Mandat ausgestattet, um öffentlich aufzutreten", sagt ein glücklicher Kirchen-"Chef" anschließend vor der Synode der EKD.
In Turbulenzen sicher und klar den Kurs gehalten
Die Mitglieder des Kirchenparlaments feiern Schneiders Wahl am Dienstag in Hannover mit stehendem Applaus - vielleicht etwas weniger euphorisch als vor Jahresfrist seine Amtsvorgängerin Margot Käßmann, aber sichtlich zufrieden mit dem klaren Votum. Schneider erhält 135 von 143 Stimmen, bei Käßmann waren es vor einem Jahr 132 von 141. Schneider erhielt damals bei seiner Wahl zum Vize sogar 137 Ja-Voten.
Der Präses der rheinischen Landeskirche erschien für die evangelische Kirche ein Jahr nach Wolfgang Huber und acht Monate nach der kurzen Käßmann-Amtszeit als einzig mögliche Besetzung des Spitzenamts. Er ist beliebt und hat sich in den Augen der Synode als kommissarischer Ratsvorsitzender nach dem Käßmann-Rückritt im Februar bewährt.
"Nikolaus Schneider hat gezeigt, dass er in den Turbulenzen nach dem äußerst bedauerlichen Rücktritt von Schwester Käßmann sicher und klar den Kurs halten konnte", sagt Ratsmitglied Uwe Michelsen. Mit seiner seelsorgerlichen Art habe Schneider "nicht nur unseren Kopf, sondern auch unser Herz erreicht". Daher sei er nach der kommissarischen Leitung nun zu recht zum "richtigen Ratsvorsitzenden" bestimmt worden.
Ein Ratsvorsitzender zum Anfassen
Tatsächlich versteht sich der aus einer Duisburger Arbeiterfamilie stammende "Niko" Schneider, wie Freunde den warmherzigen und teamorientierten Theologen nennen, in erster Linie nicht als jemand, der von oben die Richtlinien der Kirchenpolitik vorgibt. Er sieht sich als Erster unter Gleichen, als "erster Pfarrer" und Seelsorger. Schneider will Menschen in ihren Nöten beistehen und so von Gott reden, dass man ihn versteht. Als der Duisburger Oberbürgermeister Adolf Sauerland nach dem Loveparade-Unglück am Pranger stand, rief Schneider ihn einfach an, um zu hören, wie es ihm geht, und ihm als Seelsorger Mut zuzusprechen.
Dieser Wesenszug durchzieht an diesem Tag wie ein roter Faden die Gratulationen. Schneider sei "in der Sprache der Akademiker ebenso zu Hause wie in der Sprache der Arbeiter", sagt etwa Synodenpräses Katrin Göring-Eckardt. Den Vorsitzenden der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, beeindruckt Schneiders "herzliche und gewinnende Art auf Menschen zuzugehen, ebenso wie sein geschärfter Blick für die sozial Benachteiligten".
Schon als Diakoniepfarrer und Superintendent am Niederrhein ging es dem Theologen und einstigen Wirtschaftsstudenten darum, Unrecht zu benennen und sich für die "kleinen Leute" einzusetzen. Das versucht er bis heute.
Zu den ersten Gratulanten für "Niko" Schneider, wie seine Freunde ihn nennen, zählt seine Frau Anne, mit der er seit 1970 verheiratet ist. Die Religions- und Mathe-Lehrerin ist für ihn "der wichtigste Gesprächspartner, auch in kirchlichen und theologischen Fragen". Viele reihen sich in die Gratulationsschlange ein, vor allem aus Schneiders rheinischer Heimatkirche. Auch seine Sektärin schenkt ihm eine Rose, umarmt ihn, beide blicken in die Kamera: ein Ratsvorsitzender zum Anfassen.
"Steigerungen, lieber Nikolaus, sind ja noch möglich"
Schneider selbst blickt in seiner erste Reaktion über den kirchlichen Tellerrand und ordnet den Tag seiner Wahl in die deutsche Geschichte ein: Er erinnert an die Reichspogromnacht am 9. November 1938 und an den Fall der Mauer am 9. November 1989. Und er bestätigt seinen Ruf als Mannschaftsspieler: Den Herausforderungen werde er sich stellen "im gemeinsamen Prozess des Zusammenwachsens und in der gemeinsamen Bewältigung all dessen, was die Zukunft für uns bringen wird".
Mit der breiten Zustimmung im Rücken wird Schneider nun allerdings auch seine selbst auferlegte Zurückhaltung als "EKD-Chef" ablegen und noch mehr aus dem Schatten seiner Vorgänger heraustreten müssen. Schließlich gilt es, nach außen mit breiter Wirkung Gesicht und Stimme der evangelischen Kirche zu sein und nach innen Reformen weiter voranzubringen. Schneider weiß das: Vor wenigen Tagen kündigte er an, für die nächsten fünf Jahre "die Handbremse zu lösen". Michelsen sagt es so: "Steigerungen, lieber Nikolaus, sind ja noch möglich."