Gesicht und Stimme des deutschen Protestantismus
Die evangelische Kirche setzt auf Kontinuität und Verlässlichkeit - zumindest bei ihrem alten und neuen Spitzenrepräsentanten: Mit Nikolaus Schneider wurde am Dienstag in Hannover ein Mann zum "Chef" der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gewählt, der für ein klares Profil steht und die Arbeit seiner Vorgänger fortsetzen will.
09.11.2010
Von Ingo Lehnick

Vielen gilt der 63-jährige rheinische Theologe als Idealbesetzung für das Amt des Ratsvorsitzenden: Er soll die Kirche nach den Aufregungen um seine Amtsvorgängerin Margot Käßmann in ein ruhiges Fahrwasser geleiten und ebenso verlässlich wie umsichtig wichtige Entwicklungen voranbringen. Nach dem intellektuell brillierenden Bischof Wolfgang Huber und der charismatischen Bischöfin Käßmann will Schneider als zwölfter Ratsvorsitzender der EKD einen kollegialen Führungsstil pflegen.

Bis 2015 leitet der Präses der rheinischen Landeskirche nun den Rat, die "Regierung" der EKD. Mit "angezogener Handbremse" hatte er das Amt seit dem Käßmann-Rücktritt im Februar bereits kommissarisch inne. Der bis dahin stellvertretende Ratsvorsitzende drängte sich nicht nach dem Leitungsamt, wollte sich aber auch nicht davor drücken und gewann zunehmend Gefallen an der Aufgabe.

Sozialpolitisches Profil

Renommee und eine Präsenz in den Medien erarbeitete sich der bodenständige und authentische Theologe in den vergangenen Jahren vor allem mit sozialpolitischen Äußerungen. Das Thema ist dem früheren Wirtschaftsstudenten, der aus einer Duisburger Stahlarbeiterfamilie stammt und von der 68er-Bewegung geprägt wurde, auf den Leib geschnitten. Bis heute treibt den früheren Diakoniepfarrer die Sorge um, die sozial Schwächeren könnten unter die Räder kommen.

"Vorposten Gottes in der Welt und nahe bei den Menschen" muss die Kirche nach Schneiders Worten sein. Diese Botschaft vermittelt er glaubwürdig und ohne akademisches Gehabe. In vielen Leitungsämtern erwies sich Schneider als Mannschaftsspieler, dem es scheinbar mühelos gelingt, seine Gesprächspartner für sich einzunehmen. Das könnte ihm auch bei dem Ziel helfen, kircheninterne Reformen an der Basis besser zu vermitteln.

Klage über "Schneckentempo" in der Ökumene

Bei aller menschlichen Herzlichkeit formuliert der erfahrene Theologe in der Sache kritisch und klar. So beklagt er offen ein "Schneckentempo" bei der Ökumene, warnt - bei allem Respekt für Muslime - vor einer "imperialen" Architektur beim Bau der künftigen Kölner Großmoschee, geißelt eine "egoistische Abzockermentalität" unter Managern und sieht in der Finanzkrise auch eine Folge von kapitalistischem Größenwahn.

Zum Umgang der evangelischen Kirche mit Missbrauch lautet seine Linie: "Null Toleranz, klare Opferorientierung, jeder Fall wird angezeigt." Auch zu Themen wie Atomstreit, Integration, Sonntagsschutz oder "Stuttgart 21" findet Schneider deutliche Worte.

Mit dem Plädoyer für ein neues Sozialwort der beiden großen Kirchen bleibt der fußballbegeisterte Theologe seiner linksliberalen Haltung treu. Schon als Pfarrer und Superintendent in Duisburg und Moers stand Schneider er für eine sozial engagierte Kirche, die sich von der "Leidenschaft Gottes für die Schwachen" leiten lässt, und demonstrierte mit den Bergleuten und Stahlkochern für den Erhalt ihrer Zechen und Werke.

In Duisburg geboren

Geboren wurde Schneider am 3. September 1947 in Duisburg. Nach dem Theologie-Studium in Wuppertal, Göttingen und Münster wurde er 1976 Gemeindepfarrer in Duisburg-Rheinhausen, später Diakoniepfarrer und Superintendent im Kirchenkreis Moers. Er wechselte 1997 ins Düsseldorfer Landeskirchenamt und wurde 2003 als Nachfolger von Manfred Kock zum Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland gewählt - mit 2,8 Millionen Mitgliedern die zweitgrößte EKD-Gliedkirche. Seine Amtszeit dort endet 2013. Dem Rat der EKD gehört Schneider seit sieben Jahren an.

Schneider ist nach Kock der zweite Rheinländer im Amt des Ratsvorsitzenden. Wichtiger Rückhalt ist seine Ehefrau Anne, mit der er seit 1970 verheiratet ist. Einen schweren Schlag musste das Ehepaar vor knapp sechs Jahren verkraften, als die jüngste der drei Töchter im Alter von 22 Jahren an Leukämie starb. Aus dieser persönlichen Erfahrung erwuchs ein christliches Glaubenszeugnis in Form eines Buches zum Thema Leid. In den kommenden fünf Jahren wird Schneider nun in ethischen und politischen Fragen das Gesicht und die Stimme des deutschen Protestantismus sein.

epd