Als sich die Gitter des Zwischenlagers hinter den elf Tiefladern schließen, ist klar: Der Widerstand gegen die Atomkraft in Deutschland hat nicht nur eine Renaissance erlebt, er hat eine neue Qualität erreicht. Noch nie dauerte ein Castor-Transport so lange, noch nie war der Widerstand der Atomkraftgegner aus ganz Deutschland so groß, entschlossen und massiv wie dieses Jahr. Knapp 92 Stunden dauerte die Fahrt, einen Tag länger als geplant.
"Atomkraft ist wieder ein gesellschaftliches Thema"
Immer wieder wurde der Konvoi aufgehalten, zuletzt am Verladebahnhof in Dannenberg durch eine spektakuläre Aktion, bei der sich Greenpeace-Mitglieder in einem als Bierlaster getarnten Lkw angekettet hatten. "Wir haben die Leute mit unseren Protesten zum Umdenken gebracht. Atomkraft ist wieder ein gesellschaftliches Thema", freut sich Jochen Stay von der Aktion "ausgestrahlt" bei Ankunft des Konvoi vor dem Zwischenlager.
Ihm gegenüber stehen zwei junge Polizisten aus Sachsen, die dort die letzten Meter des Transports sichern. Sie sind einfach nur platt. "Wir sind müde, hungrig und freuen uns aufs Bett", sagt einer der beiden Männer mit dicken Ringen unter den Augen. 27 Stunden haben sie vor dem Zwischenlager gestanden - ohne Schlaf, ohne Essen, weil ihre Versorgung die Sitzblockade der Demonstranten nicht passieren konnte.
Mehrere tausend Atomkraftgegner haben seit Sonntag vor dem Zwischenlager campiert, teilweise bis zu 44 Stunden saßen sie auf der kalten Straße. Doch die Stimmung der Demonstranten in der Nacht ist blendend. Sie singen und wärmen sich an Lagerfeuern. "Volxküchen" geben gegen eine Spende warmes Essen aus. Einige Demonstranten schlafen, andere sind vom Adrenalin wie aufgeputscht.
Räumung bleibt friedlich
Als die Polizei dann am Morgen mit der Räumung der Blockade vor dem Zwischenlager beginnt, ist die Lage zunächst angespannt, weil nicht klar ist, ob es ohne Krawalle abgeht. Unter den Augen zahlreicher Fernsehkameras bleibt aber zunächst alles friedlich. "Wir danken Ihnen für Ihr Verständnis", sagt ein Polizist ganz höflich zu dem Mann, den er wegträgt. Später wird die Gangart der Polizei ruppiger, Seelsorger schreiten ein.
Um 8.34 Uhr startet der Konvoi am Verladebahnhof Dannenberg auf das letzte Teilstück nach Gorleben. Er wird mit einem lauten Pfeifkonzert verabschiedet. Gelbe X-Kreuze - Zeichen des Anti-Atom- Widerstands im Wendland - säumen die Strecke an Häusern und Straßen. Doch auf dem letzten Teilstück bleibt alles friedlich. Die Demonstranten haben keine Überraschungsaktion mehr in petto.
Alles geht schnell am Ende - nur knapp eine Stunde brauchen die elf Tieflader für das letzte Teilstück, das früher oft am härtesten umkämpft war. Als der Castor das Zwischenlager erreicht, ist keiner der Demonstranten mehr da. Am Wegrand liegen nur noch Iso-Matten, Strohballen und Unmengen von Müll. Aber Demonstranten wie Polizisten ist klar: Beim nächsten Atommüll-Transport nach Gorleben werden sich viele wiedertreffen.
Trittin fordert transparente Endlagersuche
Die Menschen im Wendland befürchten, dass das Zwischenlager zum atomaren Endlager werden könnte. Die Wut der Menschen richtet sich auch gegen die Verlängerung der Laufzeiten für die Atomkraftwerke. Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) stellte am Dienstag klar, dass alternative Standorte für ein Endlager erst erkundet würden, wenn Gorleben sich als ungeeignet erweise. "Man kann nicht zwei- oder dreimal Gorleben in Deutschland stemmen", sagte er im Nachrichtensender n-tv.
Der Grünen-Fraktionschef im Bundestag, Jürgen Trittin, forderte eine transparente und ergebnisoffene Suche nach einem Endlager. Er habe Zweifel an der Eignung von Gorleben, sagte er dem "Kölner Stadt- Anzeiger" (Dienstag). Der Bundestag will am Mittwoch über die Demonstrationen im Wendland diskutieren.
EKD-Präses befürwortet friedliche Sitzblockaden
Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Konrad Freiberg, machte die Bundesregierung mitverantwortlich für die Heftigkeit der Proteste. Wer den Grundkonsens in der Atompolitik aufgebe, müsse damit rechnen, dass dies in der Gesellschaft zu Konflikten führe, sagte er der "Mitteldeutschen Zeitung" (Dienstag). Bei den Auseinandersetzungen entlang der Bahnstrecke gab es nach Angaben der Kampagne "Castor Schottern" fast 1.000 Verletzte.
Der amtierende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Nikolaus Schneider, befürwortet Sitzblockaden gegen den Castor-Transport nach Gorleben als legitime Protestform. "Wenn es in dieser Weise geschieht, denke ich, ist es ein gutes Zeichen für unsere Demokratie", sagte Schneider am Dienstag im ARD-"Morgenmagazin". Gewalttätige Auseinandersetzungen wie zwischen Atomkraftgegnern und Polizisten am Wochenende lehnte der rheinische Präses aber deutlich ab.
Wann sind Blockaden erlaubt? Die rechtliche Seite
Ob Castortransport oder Bahnhofsneubau - wenn nichts anderes hilft, sehen Demonstranten in der Blockade ihr letztes Mittel. Dabei fühlen sie sich oft im Recht - ob sie es auch sind, hängt vom Einzelfall ab.
Das Bundesverfassungsgericht hat 1995 entschieden, dass bloße Sitzblockaden keine strafbare Nötigung darstellen. Die rein psychisch wirkende Behinderung stelle keine "Gewalt" im Sinne des Nötigungsparagrafen dar. Diese Beurteilung kann sich ändern, wenn Demonstranten Hilfsmittel einsetzen, sich beispielsweise anketten und damit ein über die bloße Anwesenheit hinausgehendes "physisches Hindernis" errichten.
Deshalb konnten Demonstranten, die sich vor der Baustelle der Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf angekettet hatten, ebenso wegen Nötigung verurteilt werden wie Atomkraftgegner, die zur Blockade eines Castortransports einen Stahlkasten auf den Schienen angebracht hatten.
Selbst wenn eine Blockade nicht als Nötigung strafbar ist, bedeutet das nicht, dass sie auch rechtmäßig ist. Ob eine Blockade aufgelöst werden darf, entscheidet sich nach dem Versammlungsrecht. Die symbolische Blockade als Zeichen von Protest fällt unter die Versammlungsfreiheit und ist in der Regel zulässig. Anders ist es bei der sogenannten Verhinderungsblockade: Die Versammlungsfreiheit schützt die kollektive Meinungsäußerung - nicht aber, rechtmäßige staatliche Handlungen durch körperlichen Einsatz zu verhindern.
In solchen Fällen darf die Polizei die Versammlung auflösen. Gehen die Demonstranten nicht von selbst, so kann die Auflösung auch durch "unmittelbaren Zwang" durchgesetzt werden. Die dabei eingesetzten Mittel müssen aber verhältnismäßig sein. Das bedeutet in der Regel: Die Beamten müssen die Demonstranten wegtragen. "Die Mühe muss sich die Polizei machen", sagt der Passauer Polizeirechts-Experte Prof. Dirk Heckmann. "Der Einsatz von Knüppeln oder Gas kann nur ultima ratio sein, wenn die Situation auch vonseiten der Demonstranten eskaliert."