Es gehört schon Mut dazu, an diesem nieseligen Vormittag zu dem weißen Mercedes-Bus zu gehen, der hinter der Obdachloseneinrichtung Alimaus steht. Zahnmobil steht in großen Lettern an den Seiten des Wagens, aus dem es leise rattert und brummelt. Der Mann im Anorak verlangsamt seinen Schritt, lässt die Schultern noch ein bisschen mehr hängen und schaut aus, als wolle er gleich wieder fort. Ein Zischen ertönt, als ein Kompressor anspringt. Dann öffnet sich die Tür am Heck, ein Herr mit Brille schaut heraus und lächelt so verschmitzt, dass auch der Mann seine Lippen leicht nach oben zieht. "Sind Sie der Nächste?", fragt Doktor Ulrich Lohse und guckt aufmunternd.
Der Mann, er heißt Hans-Peter, wird von Zahnschmerzen gequält. Ein Stück Backenzahn ist ihm abgebrochen, vor einer Woche schon. Der 43-Jährige hat weder Geld noch eine Krankenversicherungskarte. Er lacht selten, denn in seinem Oberkiefer sind dann Stümpfe zu sehen. Und er hat Angst vor Zahnärzten. "Aber irgendwann holen einen die Schmerzen ein", sagt er.
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Doch er hat auch großes Glück. In dem Bus arbeiten Zahnärzte wie Ulrich Lohse: Ehrenamtlich, ohne Honorar und sie haben keine Berührungsängste. Unterstützt wird Lohse oft von Zahnarztassistentin Christine Himberger, die eine Teilzeitstelle beim Zahnmobil hat. Die zierliche Frau täschelt den Arm des Patienten, der nun blass und still auf dem Behandlungsstuhl sitzt und sagt: "Keine Sorge, das tut nicht weh." Sie holt eine Karteikarte hervor. Nur den Namen wird sie notieren und nach Allergien und Vorerkrankungen fragen, um die Behandlung für einen möglichen Folgebesuch zu dokumentieren. Die Daten bleiben im Mobil. Kurz und schmerzlos setzt Lohse dann eine Spritze.
Der Bedarf ist ganz klar vorhanden
Eine zahnärztliche Versorgung von Obdachlosen – das gab es in Hamburg bis vor drei Jahren so gut wie nicht. Damals initiierten Mitarbeiter des Unternehmens Colgate-Palmolive gemeinsam mit der Caritas das Projekt Zahnmobil. Die rollende Praxis ist eine technische Meisterleistung. Auf kleinstem Raum sind Behandlungsstuhl samt schwenkbarem Mundspülbecken, Bohr- und Absauganlage, ein Kompressor und ein ausgeklügelten Aufbewahrungssystem für Spritzen, Tupfer und Zangen untergebracht. Der Prototyp konnte mit Spenden vom Deutschen Hilfswerk und dem Hamburger Spendenparlament gebaut werden, die Betriebskosten finanzieren die Zahnpflege-Firma und die Caritas.
Der Bedarf ist da: Seit das Zahnmobil im März 2008 an den Start ging, wurden knapp 1100 Männer und Frauen behandelt, 2170 zahnärztliche Leistungen, von Zahnsteinentfernung bis Wurzelbehandlungen, erbracht und mehrere hundert Zähne gezogen. Knapp die Hälfte der Patienten waren Migranten und mehr als 50 Prozent der Schmerzgeplagten war sogar krankenversichert. Mit ihrer Chipkarte hätten sie also zu einer Zahnarztpraxis gehen können. Doch die meisten trauen sich nicht. "Wir haben es mit Menschen zu tun, die nicht die Fähigkeit oder die Kräfte haben, zu einem niedergelassenen Zahnarzt zu gehen. Oder die sich zu sehr schämen, eine schicke Praxis zu betreten", sagt Projektleiter Michael Hansen von der Caritas.
"Ihr Zustand hat mich erschreckt"
So erging es wohl der Patientin, die Doktor Lohse am frühen Morgen behandelt hatte. Die 20-jährige Obdachlose im punkigen Outfit kam mit ihrem Freund zum Zahnmobil. Vor der Tür scherzte sie noch mit Matthias Trensch, dem Fahrer des Busses, und sagte ihm, dass sie keine Angst habe. Doch als sie auf dem Behandlungsstuhl sitzt, zittern ihre Hände. In dem engen Raum ist zu riechen, dass ihre Kleidung lange nicht gewaschen wurde. Routiniert bessert Lohse eine Füllung mit Amalgam aus. Nach der Behandlung wirkt der Arzt erschöpft. "Ihr Zustand hat mich erschreckt. Sie war überall gepierct und tätowiert", sagt Lohse, "Dieses Mädchen würde nie in eine normale Praxis gehen aus Furcht, abschätzig bewertet zu werden."
Lohse fährt seit einem halben Jahr beim Zahnmobil (Innenansicht siehe Bild links) mit. Der 64-Jährige ist einer von drei Ärzten im Team, die nicht mehr in einer eigenen Praxis arbeiten. Er wird häufig eingesetzt, wenn die Berufstätigen absagen müssen und eigentlich ist er glücklich über sein Ehrenamt. "Es ist wunderbar, dass ich mit meinem Beruf Menschen helfen kann", sagt er. Sobald jemand mit Zahnweh komme, sei es nicht mehr wichtig, ob derjenige sein Schicksal gar selbst verschuldet haben könnte.
Nicht alles geht, das Nötigste aber schon
Doch die Ärzte stoßen auch an Grenzen. Die Ausstattung des Mobils lässt nur Akutbehandlungen zu. Zahnersatz, Kronen und Brücken, können vor Ort nicht angefertigt werden. Zudem sind viele Patienten nicht in der Lage, mehrere Termine einzuhalten. "Wenn jemand alkoholabhängig ist oder sehr angeschlagen, kann ich sie nicht mit halbversorgten Zähnen entlassen. Ich weiß ja nicht, ob der Patient wieder kommt", erklärt Lohse. Ohne Wundversorgung und Folgebehandlungen können sich jedoch leicht Entzündungen im Kiefer ausbreiten. Im Einzelfall müssen die Zahnärzte entscheiden, einen Zahn zu ziehen, statt etwa eine Wurzelbehandlung zu beginnen.
Schmerzpatient Hans-Peter dagegen hat heute wirklich einen Glückstag. Sein Backenzahn kann gerettet werden. Der Mann erscheint so zuverlässig, dass der Zahnarzt entscheidet, den Zahn vorzubehandeln und nächstes Mal zu füllen. "Vielen Dank, Doc", sagt Hans-Peter und geht. Lohses Schicht ist für heute beendet. Assistentin Himberger verteilt in der Obdachloseneinrichtung noch Zahnbürsten, von denen stets ein Vorrat im Auto liegt. Dann schließt sie die Wagentür. Der Wagen wird jetzt geputzt, die Geräte werden sterilisiert. Bis Fahrer Trensch den Motor startet und das Mobil zum nächsten Einsatz fährt.
Kathrin Wienefeld ist freie Journalistin in Hamburg.