Johanna Georg traf es als Baby. Als sie im Badezimmer beschäftigt war, erzählt Mutter Stephanie (41), habe Johanna plötzlich fürchterlich geschrien. "Ich dachte, sie hätte sich beim Krabbeln verletzt, weil sie die Hand so komisch gehalten hat." Danach habe das Kind dann ungewöhnlich lange geschlafen. "Dabei ist sie so komisch zur Seite eingeknickt." Besorgt suchte Stephanie Georg verschiedene Mediziner auf. Kinderarzt und Orthopäde gingen damals von einer Prellung aus.
Was Johanna wirklich fehlte, wurde erst fünf Monate später erkannt - durch einen Zufall. "Ich war wegen meines Rückens bei der Krankengymnastik und hatte Johanna dabei", erzählt Stephanie Georg. Als das Kind auf dem Boden krabbelte, fiel der Therapeutin auf, dass das Mädchen sich für sein Alter untypisch bewegte, beim Hochziehen an Gegenständen etwa mit dem rechten Fuß nur auf der Spitze stand. Oder den rechten Arm wie ein Butler angewinkelt nach oben hielt. "Die Therapeutin riet mir, doch mal zum Neurologen zu gehen." Die Diagnose konnten die Georgs dann kaum glauben: Ihre Tochter hatte mit zehn Monaten einen Schlaganfall erlitten. "Wir wussten gar nicht, dass das auch Kinder bekommen können."
"Das Phänomen ist immer noch zu wenig bekannt"
Mit dieser Fehleinschätzung sind die Georgs nicht allein. Schlaganfälle werden auch von vielen Ärzten vor allem mit Erwachsenen in Verbindung gebracht. Etwa 250.000 Deutsche erleiden jährlich einen Hirninfarkt, weil ein Blutgefäß im Gehirn verstopft. Bei Kindern ist die Krankheit dagegen vergleichsweise selten. In Deutschland, so schätzen Experten, trifft es jährlich mehr als 300 Kinder und Jugendliche. Ein Drittel ist dann noch nicht einmal geboren oder gerade erst auf die Welt gekommen.
"Schlaganfälle treten bei Kindern ähnlich häufig auf wie Leukämie, trotzdem ist das Phänomen immer noch zu wenig bekannt", sagt Ronald Sträter vom Universitätsklinikum Münster. Der Kinderarzt hat sich auf Schlaganfälle bei Kindern spezialisiert. Gemeinsam mit seiner Kollegin Prof. Ulrike Nowak-Göttl hat er eine Spezialsprechstunde eingerichtet und eine bundesweite Datenbank aufgebaut, in der Kinder und Jugendliche mit Schlaganfällen erfasst werden. 800 sind es bisher.
"Wir haben immer wieder Patienten, bei denen es Wochen oder Monate gedauert hat, bis der Schlaganfall erkannt wurde, und die eine Odyssee an Arztbesuchen hinter sich haben", berichtet Sträter. Die Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe will das Thema nun verstärkt an Ärzte und Therapeuten herantragen. An diesem Wochenende richtet sie zum ersten Mal einen Kongress zum Schlaganfall bei Kindern aus, auf dem Experten in Gütersloh über neue Erkenntnisse und Therapien berichten.
Blut-Gerinnsel: Häufiges Schlaganfallrisiko bei Kindern
"Wichtig ist, dass sich die Kinder nach einem Schlaganfall genau untersuchen lassen, um herauszufinden, was den Schlaganfall ausgelöst hat", so Sträter, "denn es ist nicht ausgeschlossen, dass auf einen ersten Schlaganfall noch ein zweiter oder sogar dritter folgt - und das kann lebensgefährlich sein".
Johanna Georg - die heute 14 Jahre alt ist - kommt deswegen alle sechs Monate mit ihrer Mutter von Recklinghausen ins Universitätsklinikum nach Münster, legt sich auf eine Liege und lässt Sträter mit einem Ultraschallgerät in ihren Kopf schauen. "Bei Johanna ist die linke Hirnschlagader an einer Stelle verengt, wahrscheinlich durch eine vorangegangene Infektion", erklärt der Arzt. "Wir gehen davon aus, dass sich dort das Gerinnsel gebildet hat, das den Schlaganfall ausgelöst hat."
Eine solche Diagnose stellen die Ärzte bei jedem fünften ihrer jungen Patienten. Ein häufiges Schlaganfallrisiko bei Kindern - das haben die Münsteraner Mediziner in einer Langzeitstudie herausgefunden - ist zudem eine genetische Neigung zu "dickem Blut", also zur Bildung von Blut-Gerinnseln, die dann die Arterien verstopfen. Aber auch ein angeborener Herzfehler kann für einen Schlaganfall verantwortlich sein. Anders als bei Erwachsenen spielen Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Diabetes, ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel bei Kindern weniger eine Rolle.
Frühzeitige Therapien helfen gegen Folgeerscheinungen
"Schlaganfälle können auch bei Kindern schwerwiegende Folgen auslösen", sagt Sträter. Die Liste seiner Patienten reicht von Lähmungserscheinungen in der Hand bis zur halbseitigen Körperlähmung, von Gefühlsstörungen, Sprach- und Lernproblemen bis zur geistigen Behinderung. Frühzeitige Therapien könnten helfen, die Schäden zu mindern.
Johanna hat seit ihrem Schlaganfall Probleme, ihre rechte Körperseite richtig zu bewegen. Doch sie hat gelernt, mit ihrer Behinderung umzugehen. Trotz einer Spastik in der Hand und einem gelähmten Fuß lernt sie Klavier, spielt Handball, fährt Einrad und Ski. "Mir wurde immer wieder gesagt, dass ich das nicht schaffe", sagt sie und schaut stolz zu ihrer Mutter. "Doch dann mache ich das erst recht."