Zwölf bis vierzehn Arbeitsstunden pro Tag sind für Jessim Begun aus Bangladesch normal. Sie näht in einem Zulieferbetrieb in Dhaka Hemden und Hosen für den deutschen Discounter Lidl. Offiziell erhält die qualifizierte Näharbeiterin pro Monat 35 Euro. "In Dhaka kostet die Miete für ein Einzelzimmer schon 25 Euro monatlich", sagt die 26-Jährige.
Zu Überstunden gezwungen
Weil das Geld nicht ausreiche, um ihren Sohn, ihre Mutter und ihre zwei Brüder zu ernähren, müsse sie Überstunden leisten. Außerdem werde sie häufig vom Produktionsleiter der Fabrik gezwungen, Überstunden zu machen, wenn eine neue Bestellung eingeht und die Zeit knapp ist. Wer trotzdem früher nach Hause geht, verliere den ganzen Tageslohn.
"Die Zustände in der Fabrik sind miserabel", berichtet die junge Frau. Es gebe im Nähraum keine Belüftung, der Staub und die Flusen der Textilien sorgten für Allergien und Atemwegserkrankungen. "Manche Frauen leiden wegen des schlechten Trinkwassers in der Fabrik unter Gelbsucht", erzählt die Näherin. Die Frauen arbeiten sieben Tage die Woche, meist zwölf Stunden. Nur am Freitag sind es weniger.
"Besonders hart war die Arbeit in der Fabrik, als ich schwanger war", erinnert sich Begun. Eines Tages wurde es ihr besonders übel. Sie machte eine kurze Pause. Sofort drohte der Chef, sie zu entlassen. Begun weiß, dass ihr Chef solche Drohungen ernst macht. "Einmal haben wir gestreikt", erzählt die hagere Frau. "Wir forderten mehr Lohn." Die meisten der Arbeiterinnen seien daraufhin entlassen worden.
Konzern beteuert, verantwortungsvoll vorzugehen
"3,5 Millionen Näherinnen leiden unter den gleichen Bedingungen wie Jessim," sagt Khorshed Alam, Leiter des Instituts AMRF (Alternative Movement for Resources and Freedom Society). Der Sozialwirt hat mit seinem Team die Arbeiterinnen von vier Lidl-Lieferanten in Dhaka befragt. Sein Ergebnis: Unfreiwillige Überstunden und Beschimpfungen stehen auf der Tagesordnung.
"Obwohl Lidl sich verpflichtet hat, die Sozialstandards in den Produktionsländern zu verbessern, sieht die Realität anders aus", sagt der Institutsleiter. Discounter wie Lidl, Aldi oder KiK sollten ihre Verantwortung gegenüber den Näherinnen sehen, die mit viel Fleiß und Arbeitskraft Kleidung produzierten.
Nach Angaben von Lidl hat sich die Lebenssituation in Bangladesch verbessert, weil vor kurzem der Mindestlohn für den Textilsektor angehoben worden sei. "Lidl ist sich der Verantwortung bei der Herstellung seiner Waren bewusst", betont der Sprecher. Das Unternehmen lehne grundsätzlich jegliche Form von Kinderarbeit oder Menschen- und Arbeitsrechtsverletzungen bei der Herstellung seiner Waren ab.
"Mindestlohnreicht nicht aus"
Doch nach Ansicht von Gisela Burckhardt von der "Kampagne für Saubere Kleidung" reicht auch der neue Mindestlohn für die Näherinnen in Bangladesch nicht aus. "Noch immer sind die Näherinnen gezwungen, Überstunden zu machen, damit sie genug Geld erhalten, um davon leben zu können." Wichtig sei ein existenzsichernder Mindestlohn von etwa 50 Euro pro Monat, sagt Burckhardt.
Zudem würden immer noch die Arbeitsrechte massiv verletzt. Gesetzliche Regelungen seien wichtig. Und in der EU angesiedelte Unternehmen müssten auch für Verstöße gegen Menschenrechte und Umweltschutz in Produktionsländern außerhalb Europas haftbar gemacht werden. Wer dort Unrecht erfahre, müsse vor europäischen Gerichten klagen dürfen.
Begun reist zurzeit durch Deutschland, um von der Situation in den Textilfabriken in Bangladesch zu berichten. "Ich bin stolz, wenn ich sehe, wie viele Leute die Kleider tragen, die wir in unserer Fabrik produziert haben", sagt sie. Gleichzeitig sei sie aber auch sehr traurig. "Ich sehe, wie viel Gewinne die Firmen in Deutschland machen. Wir werden daran nicht beteiligt."