Filmtipp der Woche: "Die kommenden Tage"
Festung Europa: Wie wird unsere Welt in ein paar Jahren aussehen? Der deutsche Regisseur Lars Kraume wagt den Blick auf "Die kommenden Tage".
03.11.2010
Von Patrick Seyboth

Im 4. Golfkrieg wird um die saudi-arabischen Ölquellen gekämpft, eine gigantische Rezession erschüttert die Weltwirtschaft. Und Europa ist zur Festung geworden, von einer Mauer umgeben, an der der Grenzschutz „Frontex“ die Scharen umherziehender Flüchtlinge aus der Dritten Welt abwehrt, wie einst der Limes das Römische Reich vor den Barbaren schützen sollte. Riesige Lager von Obdachlosen beherrschen das Berliner Stadtbild, es brodelt, Revolution liegt in der Luft, die Terrorgruppe „Schwarze Stürme“ legt das Internet lahm, Straßenschlachten zwischen Demonstranten und Polizei sind an der Tagesordnung.

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Lars Kraumes Vision von den "Kommenden Tagen" könnte kaum düsterer sein. Und doch ist sein Zukunftsszenario gar nicht weit von den heutigen Verhältnissen entfernt. Frontex beispielweise, die Agentur zum Schutz der europäischen Außengrenzen, existiert längst, und auch manch anderes ist nur ein paar Schritte über die heutige Entwicklung hinausgedacht. Doch im Zentrum von Kraumes "Science Fiction"-Film stehen eher gesellschaftliche Verwerfungen und menschliche Ängste und Sehnsüchte – und die sind ganz in unserer Zeit verankert und entsprechend geerdet. "Die kommenden Tage" ist nicht nur Dystopie, sondern auch Familiendrama, Liebesfilm und Terroristenthriller. Und es ist ihm ganz ernst damit, an Lebensläufen Lebensgefühle sichtbar zu machen.

Im Mittelpunkt der sich von 2012 bis 2020 erstreckenden Handlung stehen zwei Schwestern aus gutem, doch emotional zerrüttetem Elternhaus: die besonnene und ihr privates Glück suchende Laura (Bernadette Heerwagen) und die ältere, ungestüme Cecilia (Johanna Wokalek). Laura verliebt sich in den jungen Anwalt Hans (Daniel Brühl) – eine zunächst glückliche Liebe, die jedoch tragisch scheitert, denn die beiden können keine Kinder miteinander haben. Laura entscheidet sich für ihren Kinderwunsch – und gegen Hans, ohne ihn aber vergessen zu können. Cecilia gerät an den radikalen Konstantin, mit dem sie in die Terrorgruppe „Schwarze Stürme“ eintritt. Eine unglückliche Liebe, in der sie von dem skrupellosen Konstantin benutzt wird. Bald bekommt ihr Weg einen immer stärkeren Zug ins Finstere, in Gewalt und tiefste Verzweiflung.

Können wir etwas verändern? Sogar zum Guten?

Wie diese Figuren für divergierende Lebenskonzepte einstehen müssen, ist allzu exemplarisch und lässt kaum Ironie erkennen – vermag aber doch zu faszinieren, denn in der eleganten Verknüpfung der Zukunftsvision mit Melodramen-Klischees gelingen Lars Kraume zahlreiche zwingende Szenen. Zum Beispiel erstaunlich intime, poetische Momente zwischen Hans und Laura. Und die Darsteller schaffen es, ihre teils einfach angelegten Figuren mit Leben zu erfüllen, allen voran die sehr differenziert spielende Bernadette Heerwagen und August Diehl, der hier herrlich unheimlich agiert.

So viel Raum zum Experimentieren wie bei Lars Kraumes kleinem Film "Keine Lieder über Liebe", bei dem munter drauflos improvisiert wurde, hatte bei dieser aufwendigen Produktion natürlich keiner der Beteiligten. Dennoch spürt man, wie viel Freiheit Kraume seinen Schauspielern am Set ließ, möglich dank Digitalkamera und 360-Grad-Sets, also in voll bespielbaren Umgebungen. Im Zusammenwirken mit großangelegten Tableaus und genau choreographierten Massenszenen entfaltet das eine beträchtliche Intensität.

Mit seinen mutigen und weitreichenden Visionen ist "Die kommenden Tage" ein für deutsche Verhältnisse ungewöhnlicher Film – auch in der Konsequenz, mit der er gesellschaftliche Themen zuspitzt und bei aller Schaulust auf so grundsätzlichen Fragen beharrt wie: Können wir etwas verändern? Sogar zum Guten?

Deutschland 2010. Regie, Buch: Lars Kraume. Mit: Bernadette Heerwagen, Daniel Brühl, Johanna Wokalek, August Diehl, Susanne Lothar, Mehdi Nebbou. 125 Min. FSK: ab 12, ff.

epd