"In aller Stille", 3. November, 20.15 Uhr im Ersten
Manchmal verpasst man einfach den richtigen Zeitpunkt. Mitunter sind es Sekunden, die entscheidend sein können. "In aller Stille" erzählt von solch’ einem Moment: Eine Polizistin wird zu einer Familie gerufen. Eine Nachbarin hat gesehen, dass ein kleiner Junge stundenlang in eisiger Kälte vor der Terrassentür ausharren musste. Eigentlich sollte sich Anja Amberger (Nina Kunzendorf) vergewissern, ob das mittlerweile wieder friedlich in seinem Bett schlafende Kind Spuren von Misshandlungen aufweist. Doch der Vater steht daneben, er hat eine einleuchtende Erklärung für den Vorfall, alles scheint in Ordnung. Kurz drauf ist der Junge spurlos verschwunden.
Vor einigen Jahren hat Autorin Ariela Bogenberger schon einmal ein Drehbuch für den erfolgreichen Regisseur Rainer Kaufmann ("Die Apothekerin", "Ein fliehendes Pferd") geschrieben: "Marias letzte Reise" war nicht zuletzt dank Monica Bleibtreu ein großes Werk. Daran gemessen ist "In aller Stille" ein kleiner Film, der eine beinahe alltägliche Geschichte erzählt: Als die Leiche des Jungen gefunden wird, muss Anja Amberger mit ihren Selbstvorwürfen leben. Bogenberger und Kaufmann zeigen, was Fernsehkrimis sonst gern aussparen: die Selbstzweifel der Sonderkommission (unter anderem Maximilian Brückner und Johann von Bülow), die ohnmächtige Wut angesichts des wie Müll entsorgten Kinderkörpers, der Hass auf den Vater, der als einziger als Mörder in Frage kommt. Und natürlich die Gewissheit der Polizistin: Hätte sie den Jungen untersucht, hätte sie die Spuren früherer Misshandlungen entdeckt; und der kleine Max würde vermutlich noch leben.
Anja Amberger, von Nina Kunzendorf mit gewohnter Intensität verkörpert, erhält deutlich mehr Komplexität als übliche Ermittlerrollen: Als Kind hat sie unter der Kälte ihres Elternhauses gelitten, und auch ihren eigenen Kindern gegenüber gelingt es der vom Gatten (Michael Fitz) getrennt lebenden Mutter oft nicht, die eigenen Erwartungen zu erfüllen.
Erheblich gegen den Film spricht allerdings die Bildgestaltung: Klaus Eichhammer muss mit seiner Kamera herumfuhrwerken, als handele es sich um ein Gartengerät. Wie im Kino der Siebziger springen die Bilder immer wieder in die Nahaufnahme, gerissene Schwenks ersetzen den üblichen Schnitt. Vielleicht soll diese Form der Ästhetik dem Film einen quasidokumentarischen Anstrich geben, doch sie wirkt bloß prätentiös. Außerdem ist „In aller Stille“ auch ohne die aufdringliche Bildsprache schon unbequem genug. Und den Dialogen wird mancher Zuschauer außerhalb Bayerns oft nicht folgen können.
Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" und verschiedene Tageszeitungen mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).