Die ungeheuerliche seelische Last aushalten
Ein Seelsorge-Projekt unterstützt Betroffene des Loveparade-Unglücks in Duisburg. Sie plagen sich oft selbst mit dem Vorwurf, nicht geholfen zu haben - obwohl sie es nicht konnten.
29.10.2010
nrw.evangelisch.de / Maike Freund

Es ist das Schuldgefühl, das ihn nicht mehr loslässt. Er konnte sie nicht hochhalten, wusste, dass er auf sie drückte, dass sie abrutschen würde. Andere verfolgt die Erinnerung, über jemanden gelaufen zu sein, auf jemandem gelegen zu haben. Auf Menschen, die jetzt tot sind. Gestorben im Gedränge der Loveparade.

Selbstvorwürfe wie diese sind keine Ausnahme, sagt Kordula Bründl, Pastorin aus Essen. Sie arbeitet auch als Seelsorgerin bei hilfe-loveparade.de. Die Zielgruppe: Junge Leute, die am 24. Juli in Duisburg das Unglück miterlebten, auch deren Angehörige werden hier professionell per Telefon oder Mail betreut. Das Projekt haben Notfallseelsorge und Internetarbeit der Evangelischen Kirche im Rheinland im Auftrag des NRW-Gesundheitsministeriums entwickelt und umgesetzt.

Schlafstörungen und andere Probleme

Es gibt Betroffene, die von Schlafstörungen berichten, von Problemen mit der Partnerin oder dem Partner oder mit Freundinnen und Freunden, sagt Kordula Bründl. Ihnen helfe kein Verstehen, kein: Ich hätte es auch nicht geschafft, mach dir keine Vorwürfe, das ist normal. „Es hilft nur das gemeinsame Aushalten. Das Teilen dieser ungeheuerlichen Last, die mit ihrer ganzen Wucht im Raum steht“, sagt Bründl.

Das bieten die rund zehn Seelsorgerinnen, Pädagogen und Psychologinnen unter www.hilfe-loveparade.de an. Das Besondere des Angebots: Neben einer Telefonhotline gibt es auch Beratung per Mail und die Möglichkeit, sich in Foren zu vernetzen. Hinzu kommen Informationen rund um die Themen Trauer und posttraumatische Belastungsstörungen. Außerdem vermitteln die Seelsorgerinnen und Seelsorger traumatherapeutische Behandlung. Sowohl die Beratung als auch die Vermittlung in Therapie kann anonym in Anspruch genommen werden.

Weltanschaulich offen

Der Internetauftritt ist keine rein kirchliche Seite, sondern wurde in Kooperation mit dem Ministerium für Gesundheit NRW umgesetzt. „Sie ist, wenn auch nicht weltanschaulich neutral, dann doch pluralistisch“, sagt Jürgen Sohn vom Dezernat Seelsorge der Evangelischen Kirche im Rheinland. Denn am anderen Rechner oder am anderen Telefonhörer sitzen nicht nur Mitarbeitende der evangelischen Kirche, sondern auch katholische Seelsorger und Psychologen, deren Konfession eine untergeordnete Rolle spielt.

Dass die Seite erst zwei Monate nach dem Unglück in Duisburg online gehen konnte, lag auch daran, dass Anliegen und technische Möglichkeiten professionell und verantwortungsbewusst zu einander zu bringen waren. „Nachdem alle grundsätzlichen Fragen geklärt waren, haben wir die Seite innerhalb von rund zehn Tagen umgesetzt“, sagt Maike Roeber, Internetbeauftragte der Landeskirche. Das sei Rekordzeit. Zu Beginn habe man nur über Foren nachgedacht. Aber weil hilfe-loveparade.de auch ein Angebot der Kirche sei, sollten "auch seelsorgliche Chancen und Möglichkeiten mit einfließen und Sicherheit und Vertraulichkeit im Kontakt gewährleistet werden“, sagt Roeber.

Beratungsbedarf offensichtlich mittelfristig

Allerdings ist die Beratung per Mail oder Chat auch eine Herausforderung. „In der Stimme schwingt immer auch etwas Nichtverbales mit, das es leichter macht, eine Situation einzuordnen“, sagt Sohn. Per Mail oder Chat falle das weg.  Deshalb sei das schriftlich Geäußerte – sonst meist als eindeutiger eingeschätzt – im seelsorglichen Zusammenhang oft mehrdeutiger als das mündlich Gesagte. In den vergangenen vier Wochen gingen 118 Anrufe und 40 Mails ein. Ob das viel ist? Sohn: „Ich war überrascht, dass so viele Leute auch mit dem zeitlichen Abstand noch Beratungsbedarf haben.“ Erst einmal wird die Betreuung bis Ende des Jahres angeboten. Dann wird geschaut, ob eine weitere Betreuung von den Betroffenen weiterhin gewünscht wird. Aber: „Der Erfolg misst sich nicht an der Dauer des Projekts“, sagt Sohn. „Wir wollen uns ja überflüssig machen.“

Die Hotline ist montags bis samstags von 8 bis 18 Uhr unter 0800-24 7 2010 besetzt. Weitere Informationen, auch zur Beratung per Mail, unter www.hilfe-loveparade.de 


Maike Freund ist freie Journalistin in Dortmund.