TV-Tipp des Tages: "Tatort: Der letzte Patient" (ARD)
Eine alleinstehende Ärztin ist in ihrer Praxis umgebracht worden. Ein anschließend gelegtes Feuer sollte offenbar die Spuren löschen. Kommissarin Charlotte Lindholm stößt auf diverse Verdächtige.
28.10.2010
Von Tilmann P. Gangloff

"Tatort: Der letzte Patient", 31. Oktober, 20.15 Uhr im Ersten

Die Botschaft ist unmissverständlich, aber sie wird einem nicht um die Ohren geschlagen; und deshalb ist dieser „Tatort“ aus Niedersachsen trotz seines Anliegens vor allem Krimi. Geschickt führt das von Regisseur Friedemann Fromm bearbeitete Drehbuch zunächst ohnehin in eine ganz andere Richtung: Eine alleinstehende Ärztin ist in ihrer Praxis umgebracht worden. Ein anschließend gelegtes Feuer sollte offenbar die Spuren löschen. Da die Frau ein Videotagebuch geführt hat, stößt Oberkommissarin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) auf diverse Verdächtige. Die Ärztin berichtet unter anderem von Misshandlungen. Anscheinend steht einer ihrer Geliebten, der Architekt Sallwitz (Jan Messutat), auf Gewaltspielchen. Die Vernehmung des Mannes, von Klaus Eichhammer in langen Einstellungen mit einer kreiselnden Kamera gefilmt, die beide, Polizistin und Verdächtigen, immer mehr in die Enge treibt, ist eine eindrucksvoll gespielte Szene von großer Intensität und das vermeintliche Herzstück dieses Films. Und doch ein Holzweg; selbst wenn Sallwitz dennoch eine entscheidende Rolle in diesem Fall spielt.

Erst spät findet die Geschichte ihr eigentliches Thema, was nicht heißen soll, dass der Film bis dahin nichts zu erzählen hat. Zu den vielen Ebenen der Handlung (Autorin: Astrid Paprotta) gehört auch Charlotte Lindholms unerwartetes Single-Dasein: Mitbewohner Martin Felser ist sang- und klanglos ausgezogen. Da er sich uneigennützig um den Sohn der LKA-Ermittlerin gekümmert hat, steht sie nun vor den ganz normalen Problemen aller alleinerziehender Mütter. Der zusätzliche Stress hat zur Folge, dass die sonst so beherrschte Beamtin ziemlich gereizt reagiert, wenn ihr was nicht passt, zumal die eigentlich mit dem Fall betraute Kollegin (Christina Große) offenbar eine Vorzeigemutter ist und ihren Nachwuchs ständig zu irgendwelchen frühkindlichen Förderungskursen begleitet.

Die Dünnhäutigkeit führt allerdings dazu, dass Lindholm zupackt, wo andere wegschauen; etwa, als ein Junge von mehreren Jugendlichen gequält wird. Dieser Tim (Joel Basman) entpuppt sich als Schlüssel zur Lösung des Mordfalls. Er ist gewissermaßen auch der Botschafter des Films: Nur, weil sich jemand nicht wehrt, heißt das noch lange nicht, dass er mit allem einverstanden ist, was ihm angetan wird. Tim ist etwas zurückgeblieben und lebt in einer Pflegefamilie, wo man sich anscheinend vorbildlich um ihn kümmert. Allein dank ihrer Hartnäckigkeit entdeckt die Kommissarin schließlich Abgründe, die einen schaudern lassen.

„Weichen Missbrauch“ nennt Grimme-Preisträger Fromm („Die Wölfe“), dessen Serie „Weissensee“ gerade mit viel Erfolg in der ARD lief, was dem Jungen in der Geschichte angetan worden ist. Als Tim schließlich ebenfalls ermordet wird, weiß Lindholm zwar, dass sie auf der richtigen Spur war, leidet aber fortan unter schweren Selbstvorwürfen, weil sie den Jungen nicht schützen konnte. Und dann gerät auch noch ihr Chef (Torsten Michaelis) in die Schusslinie, denn auch er gehörte zu den Geliebten der toten Ärztin. Ein gerade wegen des subtil inszenierten, quasi hinter den Bildern lauernden Horrors und der ausgezeichnet geführten Darsteller sehenswerter „Tatort“, dem es zudem gelingt, der Figur Charlotte Lindholm ganz neue Seiten abzugewinnen.


Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" und verschiedene Tageszeitungen mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).