Gleiche Bildungschancen für gehörlose Kinder - wie?
Hörbehinderte Kinder sind meist keinesfalls "taubstumm" - doch ihr Sprach- und Sprechvermögen optimal zu fördern, ist eine Aufgabe, die besondere Sorgfalt erfordert. Kritisiert wird vor allem, dass die Gebärdensprache nicht im notwendigen Maß gelehrt wird.
25.10.2010
Von Sabine Weiland

Katharina ist ein geistig agiles Mädchen. "Aber manchmal ist sie so verzweifelt, dass sie sich nicht mitteilen kann", sagt ihre Mutter, Bettina D. "Das ist unglaublich bedrückend." Katharina ist gehörlos. Gebärdensprache könnte ihr helfen. Doch die wird in Deutschland nicht flächendeckend vermittelt.

Zwar besuchen fast 11.000 gehörlose Mädchen und Jungen spezielle Schulen für Hörgeschädigte. Doch wie addiert und subtrahiert wird, wie aus Wörtern Sätze werden, das sollen sie in der Lautsprache der Hörenden begreifen. Nur die Hälfte der Mädchen und Jungen schafft das, trotz Technik und Förderung. Der Rest darf, wenn er Glück hat, die Deutsche Gebärdensprache (DGS) lernen. Für gleiche Bildungschancen ist das zu spät, kritisieren Experten.

Aufgabe: Sprechen wie Hörende

2008 zeigte eine Studie, dass mehr als zwei Drittel der Frühförderstellen primär hörgerichtet arbeiten. "Da wird das Kind doch nur beschallt", moniert Bettina D. "Es wird geklopft und geklappert. Reagiert das Kind, dann war es gut." Weder gebe es für ihre Tochter ein Förderkonzept, noch einheitliche Qualitätsstandards für Ausbildung und Förderinhalte.

"Einem Kind in dieser Zeit ein funktionierendes Kommunikationssystem zu verwehren, das grenzt für mich an Körperverletzung", sagt Katja Belz, Präsidentin des Bundeselternverbandes gehörloser Kinder: "Wie einsam müssen diese Kinder sein?"

Das Grundproblem: Die Kinder sind gehörlos, sollen aber sprechen wie Hörende. Damit das gelingt, beackern sie und ihre Eltern zu Hause und in Frühförderstellen akribisch und oft Nerven zerreibend das Feld der Lautsprache. Die Gebärdensprache wird kaum thematisiert. Es fehlt an Vorbildern, Kursen, sicherer Finanzierung durch die Sozialhilfe - und den Familien oft an Kraft.

Die Wenigsten besuchen eine Regelschule

Die Gebärdensprache ist eine dreidimensionale Sprache. Sie nutzt den Raum für Hände, Arme, Kopf und Rumpf - alles ist beteiligt und grammatisch bedeutsam. Wenn sich die Fingerkuppen von Daumen und Zeigefinger treffen, ein Loch formen, die anderen Finger sich nach oben recken und dann die Hand vor die Stirnmitte schnellt, dann haben Sie: "Keine Ahnung!" - sozusagen ein symbolisches Loch im Kopf.

Etwa 95 Prozent der gehörlosen Kinder haben hörende Eltern. Diese wünschen sich, mit ihrem Kind in ihrer, der Sprache der Hörenden, zu reden, zu flachsen und es erziehen zu können. Von den diagnostizierenden Ärzten hören die Eltern meist, dass ihr Kind ganz unproblematisch in die hörende Welt integriert werden könne.

Doch dass von 14.000 hörgeschädigten Schülern nur etwa 3.000 als Integrationskinder die Regelschule besuchen, erfahren sie nicht. Auch nicht, dass mehr als die Hälfte der hochgradig schwerhörigen und gehörlosen Kinder nicht in die Lautsprache finden. Diese Kinder lernen Wörter, aber keine Sprache; sie sprechen, aber verstehen die Inhalte nur schwer. Nur dreißig Prozent des Gesagten ist von den Lippen ablesbar.

Gebärdensprache als Frühförderung

Kommen diese gehörlosen Kinder in die Schule, unterscheiden sie sich eklatant in Wortschatz, Wissen und Gesprächskompetenz von ihren hörenden Altersgenossen. Studien zeigen: Wenn diese Schüler die Schule verlassen, verfügen sie über eine durchschnittliche Mathe-, Lese- und Schriftsprachkompetenz wie hörende Zehnjährige. Und das, obwohl sie hörenden Schülern intellektuell ebenbürtig sind.

Dennoch empfehlen Ärzte die DGS nur, wenn die Eltern muttersprachlich gebärden oder wenn die Lautsprache trotz eines Coechler-Implantats, einer Innenohrprothese, nicht zeitgerecht in Gang kommt. Das ist fatal. Denn dann ist die hirnphysiologisch sensible Phase zum Sprachenlernen weitgehend abgeschlossen.

Unterbleibt das, dann verkümmern Nervenzellen und Denkprozesse. Das zeigt die Hirn- und Sprachforschung. "Die alleinige Konzentration auf die lautsprachlichen Kompetenzen war und ist ein Fehler", sagt heute auch Renate Köhler-Krauß, Leiterin der Münchener Samuel-Heinicke-Schule mit Förderschwerpunkt Hören. Doch diese Sicht teilen nur wenige ihrer Kollegen.

epd