Seit dem Paulusjahr von 2008/09, das auch von der offiziellen Türkei – touristisch – mitgefeiert wurde, findet die dem Völkerapostel geweihte Kirche in seiner heute südtürkischen Geburtsstadt Tarsus neues gesamtchristliches Interesse und steht im Zentrum widersprüchlicher Interessen und Informationen. Das Gotteshaus blickt auf eine wechselvolle Geschichte zurück und ist heute ein staatliches Museum. Noch immer ist nicht gewiss, ob es nun wirklich zur kirchlichen Verwendung zurückgegeben wird oder nur vereinzelte kirchliche Feiern abgehalten werden dürfen.
Das Ende 1921 von den Anhängern Atatürks fast völlig "christenrein" gemachte Tarsus ist nicht nur als Gedenkstätte an Paulus wichtig. Sein späterer Bischof war jener Theodor von Tarsus, der 668/69 als Erzbischof von Canterbury an die Spitze der englischen Kirche berufen wurde. Es handelte sich dabei um eine der letzten lebendigen Querverbindungen zwischen der morgen- und abendländischen Christenheit. Auch die größte kirchliche Persönlichkeit des armenischen Mittelalters, der als Theologe und liturgischer Dichter berühmte Katholikos Nerses IV. Schnorhali (1166-1173) stammte nach neueren Erkenntnissen aus Tarsus.
Erste Spuren aus dem 12. Jahrhundert
Frühes christliches Leben in der Paulusstadt bezeugen der Märtyrer Bonifatius von Tarsus (um 306), der sich gerade in Süddeutschland als "Eisheiliger" großer Bekanntheit und Verehrung erfreute, sowie Ende des 4. Jahrhunderts der gelehrte Bischof Diodoros von Tarsus. 250 Jahre danach fiel die Stadt erstmals unter islamische Herrschaft, bis sie 965 von Byzanz wieder gewonnen werden konnte. Im 12. Jahrhundert gehörte Tarsus zu dem im Gefolge der Kreuzzüge entstandenen armenischen Königreich Cilicien, das zeitweise in einem Lehensverhätnis zum deutschen Kaiser stand.
Aus dieser Zeit lässt sich erstmals mit Bestimmtheit die heutige Paulskirche nachweisen. Auf ihren Fundamenten wurde dann unter türkischer Herrschaft im 18. Jahrhundert das heutige Gotteshaus erbaut: eine typische osmanische "Toleranzkirche" ohne Glockenturm und Kuppel, unscheinbar und unauffällig, wie sie unter dem Sultan bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts allein zugelassen waren.
Dennoch war Tarsus damals ein wichtiges christliches Zentrum mit je einem armenischen, melkitischen und maronitischem Erzbischof. Auch in der katholischen Kirche blieb es ein begehrter Titel für bedeutende Persönlichkeiten: So war der um einen möglichst romfreien Katholizismus in Deutschland bemühte Karl Christoph von Dalberg (1744 – 1817) ein Titularerzbischof von Tarsus.
Das zweite christliche Gotteshaus an der "Sonnenküste"
Die osmanische Herrschaft fand 1920 mit dem Frieden von Sèvres ihr Ende. Tarsus und mit ihm ganz Cilicien wurden eine "Französische Zone". Doch schon im Dezember 1921 übergab Paris diese den türkischen Nationalisten unter Kemal Atatürk. Diese töteten oder verjagten alle Christen mit Ausnahme der wenigen Katholiken, die der Heilige Stuhl unter wirksamen Schutz nahm. So bestand auch die Paulskirche als einzige weiter, bis sie 1943 vom türkischen Militär beschlagnahmt und zu einem Munitionslager gemacht wurde.
Dem Türkei-Tourismus hatte das Munitionslager dann die Aufwertung zum Museum, dem Paulusjahr das Versprechen einer Rückgabe an die katholische Kirche zu verdanken. Die türkische Sonnenküste von Antalya bis Iskenderun mit ihrem wachsenden Anteil von ständig dort lebenden oder zumindest überwinternden EU-Bürgern und Deutschen erhielte so ihr zweites christliches Gotteshaus. Noch immer ist aber nicht sicher, ob es sich nicht nur um punktuelle Nutzungsgenehmigungen handeln wird, dann aber immerhin für Christen aller Konfessionen. Bürgermeister Burhanettin Kocamaz von der nationalistischen "Partei der Nationalen Bewegung" (MHP) will jedenfalls kein "artfremdes Gotteshaus" in seiner Stadt, was immer Ankara auch beschliessen und zusagen möge.
Heinz Gstrein ist freier Autor.