Letzte Chance für die seltensten Nashörner der Welt
Sie gehören zu den letzten ihrer Art: Vier Nördliche Breitmaul-Nashörner aus einem Zoo in Tschechien, die in der Savanne Afrikas auf ein Leben in der Wildnis vorbereitet werden - und sich dort vermehren sollen.
18.10.2010
Von Eva Krafczyk

Sudans mächtige Kiefer mahlen, bis die Möhren nur noch Mus sind. Dann macht sich der Nashornbulle genüsslich über den Strohballen her, den ihm ein Ranger vor die massige Schnauze gelegt hat. Dixon Kariuki beobachtet seinen Schützling aus wenigen Metern Entfernung, entspannt an den Geländewagen gelehnt. Die Akazienbäume werfen schon lange Schatten, die Spätnachmittagssonne taucht die Savanne in ein warmes Licht. Sudan lässt sich durch die Anwesenheit der Ranger nicht beim Fressen stören, er ist schließlich an Menschen gewöhnt.

"Das Stroh und die Möhren sind gewissermaßen noch Überbleibsel aus der Vergangenheit, weil sie an dieses Futter gewöhnt waren", sagt Kariuki. "Langfristig sollen die Tiere sich völlig selbstständig ernähren." Es ist ein langer Weg, denn Sudan wurde zwar in der Wildnis geboren, verbrachte die meiste Zeit seines Lebens im tschechischen Zoo Dvur Kralove. Seine Gefährtin Najin, mit der er sich ein großes, mit Elektrozaun umgebenes Areal in Ol Pejeta, einem privaten Naturschutzgebiet bei Nanyuki in Zentralkenia teilt, kam ebenso wie ihre Mutter Fatu und Nashornbulle Suni im Zoo zur Welt. Sie haben den Duft der Freiheit noch nie gerochen.

Beginn eines Auswilderungsprojekts

Kariuki ist Chefwildhüter in Ol Pejeta. Für ihn und Wildlifemanager Batian Craig sind die vier Nashörner die vielleicht größte Herausforderung ihrer Karriere. Ende vergangenen Jahres wurden die vier Dickhäuter aus dem tschechischen Winter in den afrikanischen Sommer geflogen - Beginn eines Auswilderungsprojekts, das nicht nur die Zootiere zurück in ihre ursprüngliche Heimat bringen, sondern auch die letzte Chancefür eine vom Aussterben bedrohte Nashorn-Unterart ist.

Die vier Nashörner, die mit ihrer dicken grauen Haut und dem imposanten Horn so unbezwingbar aussehen, gehören zur Unterart der Nördlichen Breitmaulnashörner. In freier Wildbahn gelten sie als ausgestorben, seit Jahren wurde kein Tier mehr gesichtet. Nur in den USA gibt es in einem Zoo noch vier andere Tiere, die inzwischen allerdings schon recht alt sind. Auch die Südlichen Breitmaul- und die Spitzmaulnashörner sind bedroht. Doch von ihnen gibt es immerhin noch etwa 11.000 beziehungsweise 3.600 Tiere in Afrika - auch dank eines Zuchtprogramms, an dem etwa die in der Nähe von Ol Pejeta gelegene Solio-Ranch beteiligt ist.

Wilderer und Bürgerkriege tragen zu Ausrottung bei

Doch die Erfolge von Wildhütern und Naturschützern werden getrübt durch Wilderer, die unerbittlich Jagd auf Nashörner machen und auch in staatliche oder private Reservate einzudringen versuchen. Das Horn wird in manchen asiatischen Ländern als potenzsteigerndes Wundermittel angesehen. Auf dem Schwarzmarkt werden dafür Preise gezahlt, die Wilderer das Risiko langjähriger Gefängnisstrafen vergessen lassen.

Zur Ausrottung der Nördlichen Breitmaulnashörner haben zudem bewaffnete Konflikte und Bürgerkriege beigetragen. Denn die ursprüngliche Heimat der Tiere sind der Südsudan, Norduganda und Teile des Kongo - Länder, die jahrelang von blutigen Konflikten erschüttert wurden und zum Teil noch werden. Wo ganze Dörfer niedergebrannt und die Einwohner vertrieben oder regelrecht abgeschlachtet werden, hat der Tierschutz keine Chance.

Das letzte freilebende Nördliche Breitmaulnashorn wurde zuletzt vor Jahren im Garanga-Nationalpark im Nordostkongo gesichtet. Dort hat sich die "Widerstandsarmee des Herrn" (LRA) verschanzt, eine der berüchtigtsten Rebellenarmeen Afrikas. Der Tierbestand in dem Nationalpark gilt inzwischen als stark ausgedünnt, da die Rebellen sich mit "Bushmeat" verpflegen und die Tiere jagen, um sie zu essen. Genaue Zahlen hat niemand, da die Wildhüter das Gebiet höchstens überfliegen können. Der Nationalpark selbst ist ein No-Go-Gebiet, seit die Kämpfer sich dort niedergelassen haben.

Auf Sudan und Najin, Fatu und Suni ruhen deshalb die Hoffnungen von Zoologen aus aller Welt. "Wir hoffen, dass sie sich fortpflanzen und unter natürlichen Lebensbedingungen auch ihre Instinkte wieder zum Leben erwachen", sagt Craig. "Nach all den Jahren im Zoo fühlen sie sich allerdings wie Bruder und Schwester..."

Die ersten drei Monate in der afrikanischen Savanne

Schon die Erfahrung mit der afrikanischen Savanne war für die Tiere ziemlich überwältigend. "In Tschechien haben sie in einem engen Gehege gelebt, standen auf Betonboden und konnten im Winter nur eine Stunde an die frische Luft", beschreibt Craig die Zoovergangenheit der Tiere (siehe Bild links). "Bis sie hierher kamen, haben sie nie im Leben Gras gefressen oder sich ihr Futter selber suchen müssen." Der Anpassungsprozess ist noch immer nicht vorbei.

Die ersten zwei Monate in Ol Pejeta verbrachten die vier Nashörner in einem Gehege, Mitarbeiter des Zoos von Dvur Kralove kümmerten sich zusammen mit den kenianischen Wildhütern um die Tiere. Craig bemüht sich, Kritik zu vermeiden. "Die Leute aus dem Zoo haben alles für die Tiere getan, was sie konnten. Aber das war kein natürliches Leben. Das waren ungesunde, unfitte Tiere, die zu uns kamen."

Nach drei Monaten im Gehege, in denen sich die Nashörner an die Gerüche und Geräusche ihrer neuen Heimat gewöhnen konnten, kamen sie erstmals in ein Areal, in dem sie selber grasten und nicht mehr ausschließlich gefüttert wurden. "Am Anfang waren sie sehr nervös, das Gehege zu verlassen", beschreibt Craig die Reizüberflutung bei der ersten Begegnung mit der afrikanischen Savanne. "Sudan war nach seinem ersten Spaziergang tagelang erschöpft - seine Beine waren viel zu schwach." Inzwischen scheint der Nashornbulle mit den neuen Lebensumständen am Äquator, der auch durch Ol Pejeta verläuft, ganz zufrieden zu sein. "Er markiert sein Revier, wie es ein in der Wildnis aufgewachsenes Nashorn tun würde, und er zeigt Interesse an seiner Umgebung", sagt Kariuki, der mit 16 Jahren gleich nach der Schule einen Job bei Ol Pejeta suchte und sich bis zum Chefranger hocharbeitete.

Von den wilden Artgenossen Sozialverhalten lernen

Zebras und Antilopen machen die Nashörner nicht mehr nervös, und auch mit den fünf Südlichen Breitmaulnashörnern, die das Gelände mit Sudan und Najin teilen, gibt es keine Konflikte. Die Nashörner wandern stundenlang grasend durch ihr Areal, halten gelegentlich ein Nickerchen im Schatten - alles unspektakulär, aber eben typisches Nashornverhalten. "Die Bedingungen sind natürlich kontrolliert", sagt Craig. "Wir tasten uns da langsam vor, bisher hat ja niemand Erfahrung mit so einem Projekt gesammelt." So war von Anfang an klar, dass kein anderer Nashornbulle Sudans Revier teilen kann. Denn für einen Kampf mit einem Rivalen ist er einfach nicht gerüstet, nicht nur wegen des Horns, das aus Sicherheitsgründen gestutzt wurde.

Aber Sudan und Najin können von ihren wilden Artgenossen Sozialverhalten lernen. Eines der Tiere hat ein Junges, und auch hier hoffen die Experten auf einen Lerneffekt, sollte es mit dem Nachwuchs doch noch klappen. Auch wenn Sudan derzeit mehr an seinen Möhren interessiert ist - Craig gibt die Hoffnung nicht so schnell auf. "Wir stehen da nicht unter Zeitdruck, die Tiere sind noch nicht so alt, dass es innerhalb von ein, zwei Jahren klappen muss." Außerdem: Sollte es zwischen Sudan und Najin nicht funken, bleibt immer noch Hoffnung auf intensive Zuneigung zwischen Fatu und Suni.

Letzte Chance auf eine neue Generation

Und tatsächlich: Nach zehn Monaten in Afrika gibt es erste Zeichen, dass Suni in Fatu mehr sieht als nur seine Gefährtin im Gehege. "Er zeigt ernsthaftes Interesse", freut sich Elodie Sampere, die Sprecherin eines Bündnisses privater Naturreservate, zu dem auch Ol Pejeta gehört. Dungproben sollen nun in den tschechischen Zoo geschickt werden, um die Hormonwerte der beiden Nashörner zu bestimmen. Allem äußeren Anschein nach aber ist der Funke zwischen den beiden übergesprungen. "Das sind die ermutigendsten Zeichen seit der Ankunft im Dezember", sagte Sampere. Vielleicht bringt das intensive Beschnuppern und Umkreisen im Nachbargehege aber auch Sudan doch noch in die richtige Stimmung. Momentan zeigt der Nashornbulle nämlich mehr Interesse an einem der wilden Breitmaulnashörner als an Najin.

Die Hoffnung der Wildhüter ist groß. Denn es ist klar: Dies ist die letzte Chance auf eine neue Generation Nördlicher Breitmaulnashörner. Und wenn den vier Tieren etwas zustoßen sollte, wäre dies das Ende für das mit so vielen Hoffnungen verbundene Projekt. Dies ist auch der Grund, warum bei der Auswilderung der Tiere die Wahl auf Ol Pejeta fiel. Das Reservat blickt als private Naturschutzeinrichtung auf lange Erfahrung mit Nashörnern zurück und kann mehr Mitarbeiter für den Schutz der Tiere aufbieten, als es die kenianische Naturschutzbehörde KWS könnte.

Ziel: So wenig menschliche Intervention wie möglich

Sudan, Najin, Fatu und Suni genießen mehr Schutz als mancher Politiker. Die Tiere können aus der Entfernung geortet werden, denn sie haben Peilsender in die Hörner eingebaut bekommen. Von einer Plattform aus beobachten die Wildhüter das Areal der Tiere, Ranger patrouillieren zu Fuß durch den Busch, um die Nashörner im Auge zu behalten. Wenn täglich am späten Nachmittag die Sonderration Möhren und Stroh vorbeigebracht werden, haben Kariuki oder Craig Gelegenheit, die Tiere ganz aus der Nähe in Augenschein zu nehmen. "Inzwischen reagieren sie auf Tschechisch, Englisch und Suaheli" grinst Kariuki. "Sie sind wirklich international, unsere Nashörner." Da sie als Zootiere an die Anwesenheit von Menschen gewöhnt sind, erleichtert die Anwesenheit der "Leibwächter" den Nashörnern den Übergang ins wilde Leben.

Langfristig soll das aber nicht so bleiben, betont Craig, der seit fünf Jahren in Ol Pejeta arbeitet und in einem anderen Nashornprojekt bereits den britischen Thronfolger Prinz William mit den bedrohten Dickhäutern vertraut machte. "Unser Ziel ist so wenig menschliche Intervention wie möglich. Wir werden immer präsent sein, um für die Sicherheit der Tiere zu sorgen - aber zu viel Kontakt mit Menschen soll vermieden werden."

Besucher in Ol Pejeta bekommen die Tiere daher nur zu Gesicht, wenn sie sich zufällig im Bereich des Zauns aufhalten. Zudem liegt das Nashornareal nicht direkt an den Pisten für Touristen. "So kann die Natur wahrscheinlich am besten ihren Lauf nehmen", sagt Craig. "Und falls daraus nichts wird, haben sie bei uns mit Sicherheit ein sehr viel besseres Leben."

dpa