"Im Angesicht des Verbrechens", 22. Oktober, 21.45 Uhr im Ersten
In deutschen Krimis gibt es ein ungeschriebenes Gesetz: Die Guten dürfen kleine Fehler haben, aber sie müssen berechenbar bleiben. Deshalb wurde der vor allem handwerklich eindrucksvolle Sat.1-Mehrteiler "Blackout" vor einigen Jahren so ein völliger Flop: Die Hauptfiguren waren korrupte Polizisten. Der Held der Geschichte fand zwar dank einer Amnesie auf den rechten Weg zurück, doch die Vergangenheit, die sich ihm nach und nach offenbarte, war ziemlich düster. Gleiches galt für die Optik des Films.
Dominik Graf wusste also, welche Fehler er bei seiner bereits bei der Berlinale und kurz drauf zur Arte-Ausstrahlung enthusiastisch gefeierten Krimiserie "Im Angesicht des Verbrechens" besser vermeiden sollte. Vermutlich hat es ihn trotzdem nicht interessiert; wer in seiner Karriere acht mal den Grimme-Preis gewonnen hat, ist längst gewöhnt, seine eigenen Maßstäbe zu setzen. Bei allem berechtigten Stolz der ARD auf diese Produktion (gleich vier Sender waren unter Federführung des WDR beteiligt, außerdem die ARD-Tochter Degeto sowie Arte und der ORF): Große Hoffnungen, die episch erzählte Saga könne ein Quotenerfolg werden, hat man wohl nicht. Die durchaus vergleichbare mehrfach ausgezeichnete ZDF-Serie "KDD" ist zwar ebenfalls hochgelobt worden, hatte aber bei weitem nicht genug Publikum, um fortgesetzt zu werden. Der Sendeplatz wird aber wohl auch eine Frage des Jugendschutzes sein: "Im Angesichts des Verbrechens" ist eine Geschichte voller Sex & Crime. Und nicht nur deshalb ist die Produktion ein Fremdkörper im ansonsten doch sehr braven öffentlich-rechtlichen Fernsehen: Drehbuchautor Rolf Basedow erzählt eine fortlaufende Handlung; genaugenommen handelt es sich um einen Film von gut sechs Stunden, den die ARD in fünf Doppelfolgen zeigt.
So viel Zeit ist auch nötig, um der Komplexität des Gangster-Epos’ gerecht zu werden. Hauptfigur ist der junge Berliner Marek (Max Riemelt), ein Sohn baltisch-jüdischer Einwanderer, der zum Unmut seiner Familie Polizist geworden ist. Um ihn herum gruppieren Basedow und Graf ein vielköpfiges Ensemble. Der einzige erkennbar Gute ist Mareks Freund und Kollege Sven (Roland Zehrfeld). Gegenspieler der beiden ist Mareks Schwager Mischa (Misel Maticevic), hinter dessen ehrbarer Fassade als Restaurantbesitzer sich ein kriminelles Imperium verbirgt. Davon allerdings hat Marek keine Ahnung, als er mitten hinein in einen Bandenkrieg gerät. Auslöser ist er selbst, als er in einem flüchtigen Gangster den Mörder seines vor zehn Jahren auf offener Straße erschossenen Bruders erkennt. Beim LKA ist man derart beeindruckt von der Entschlossenheit des jungen Mannes und seines Partners, dass die beiden die Abteilung „Organisierte Kriminalität“ verstärken sollen. Sie kommen gerade rechtzeitig, um sich die spektakuläre Flucht des Verbrechers schildern zu lassen.
"Im Angesicht des Verbrechens" kann es an Epik, Dramatik und Klasse gut und gern mit dem Klassiker "Der Pate" aufnehmen, zumal die Geschichte mit ihren freizügigen Nachtclubszenen und der Aggressivität der Gangster sehr maskulin wirkt. Neben Grafs dichter Erzählweise, die immer wieder punktuell für Tempo sorgt, allerdings die Dynamik dabei sehr geschickt dosiert, ist der Mehrteiler nicht zuletzt wegen der Vielzahl großartiger Schauspieler mit Migrationshintergrund sehenswert. Beim Deutschen Fernsehpreis ist das Werk kürzlich nicht nur als bester Mehrteiler ausgezeichnet worden, das Ensemble wurde zudem ausdrücklich für seine besondere Leistung gewürdigt.
Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" und verschiedene Tageszeitungen mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).