Vizepräsident Alain Délétroz war lange nicht mehr in seinem Büro. Er kommt gerade aus dem Krisenland Guinea zurück. Zäh seien die Gespräche mit der Regierung gewesen, aber ein erster Erfolg, sagt er. In seinem Büro hat Délétroz bunte Kinderbilder an die Wand gepinnt. Bücher und Papiere türmen sich auf dem Schreibtisch. Er mag es gemütlich.
Das Büro im 24. Stock mit Klimaanlage und Ledersesseln, fernab vom Trubel der EU-Hauptstadt, entspricht aber nicht seinem Ideal. Er ist lieber mitten im Geschehen. Wie die Mitarbeiter der Crisis Group. "Wer für uns arbeitet, will die Ursache der Krisen verstehen", sagt Délétroz.
Rund 130 Mitarbeiter in 49 Staaten liefern Berichte nach Brüssel. Délétroz teilt seine Mitarbeiter in drei Kategorien ein: Akademiker, Journalisten, Diplomaten. Die Wissenschaftler bringen ihre Genauigkeit ein, die Reporter, was sie erlebt haben, die Diplomaten ihre Kontakte in die Politik.
30 Seiten Analyse
Samina Ahmed ist eine, die Katastrophen auf den Grund geht. Die ehemalige Harvard-Professorin ist Projektleiterin der Crisis Group in Islamabad. Seit Beginn der Flutkatastrophe Ende Juli in Pakistan ist sie vor allem im Norden des Landes unterwegs. Sie spricht mit Helfern, Beamten, Militärs und wenn möglich mit Vertretern extremistischer Gruppen.
"Für meine Analysen benötige ich alle Aspekte", sagt Ahmed. Ihr Endprodukt ist ein Bericht, nicht länger als 30 Seiten, mit Quellenhinweisen und Fußnoten. Über 150.000 Abonnenten weltweit bekommen ihre Analyse. Darunter sind Politiker, Politikwissenschaftler, Mitarbeiter von Hilfswerken und Journalisten.
Finanzieren lässt sich die Crisis Group von Regierungen, Stiftungen und Privatpersonen. Mehr als elf Millionen Euro stehen ihr pro Jahr zur Verfügung. Einen Großteil tragen die USA. Die Bundesregierung steuert rund 250.000 Euro jährlich bei.
Zwist an der Tagesordnung
Bestechen lässt sich die private Lobbygruppe nicht. "Unsere Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit sind unser Kapital", sagt Vizepräsident Délétroz. "Streit mit den Regierungsvertretern gibt es regelmäßig, weil ihnen unsere Berichte nicht immer passen."
Analysefehler kann sich die Denkfabrik nicht leisten. Im Jahr 2000 etwa glaubten die Fachleute von der Crisis Group, dass der serbische Regierungschef Slobodan Milosevic an der Macht bleiben wird. Sie riefen zu einem Boykott der Opposition auf, um den Konflikt einzudämmen. Doch die Opposition gewann, es begann eine neue Ära auf dem Balkan. Es dauerte lange, bis die Krisenforscher dort wieder ernst genommen wurden. "Unsere Analysen sind nicht unfehlbar", sagt Délétroz.
Die Crisis Group entstand aus einem Gefühl der Ohnmacht und des Unmuts darüber, dass Politiker viele Krisen nicht lösen konnten. 1995 gründete der US-Diplomat Morton Abramowitz gemeinsam mit dem ehemaligen Vorsitzenden des UN-Entwicklungsprogramms, Mark Malloch Brown, die Organisation.
Und wo bleiben die Taten?
Sie scharten zahlreiche Denker um sich, darunter den ehemaligen finnischen Präsidenten und Friedensnobelpreisträger Martti Ahtisaari sowie den Milliardär und Spekulanten George Soros. Bis heute sitzt im Kuratorium Politprominenz wie der deutsche Ex-Außenminister Joschka Fischer (Grüne) und der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan.
Seit einigen Monaten ist die kanadische Juristin Louise Arbour Präsidentin der Gruppe, die frühere UN-Hochkommissarin für Menschenrechte. "Sie hat den richtigen politischen Riecher", sagt Délétroz, der sich mehr Resonanz erhofft. "Unsere Analysen werden angehört, aber es tut sich nichts", klagt er.
Erst vor kurzem war er im Bundestag in Berlin, um den neuesten Bericht zu Kirgistan vorzustellen. Die Abgeordneten nahmen sich viel Zeit. Doch Initiativen, um neuen Unruhen vorzubeugen, wollten sie nicht auf den Weg bringen. Délétroz: "Ein Zeichen, dass die Arbeit der Crisis Group noch lange gebraucht wird."