"Alegría" allerorten - Die Welt freut sich mit Chile
Die spektakuläre Rettung der verschütteten Kumpel in Chile ist ein wahres Freudenfest. Bis zum Abend war mehr als die Hälfte der 33 Bergleute raus aus der Tiefe der Mine. Nicht nur bei Angehörigen fließen Tränen der Freude. Die ganze Welt feiert mit. Im Internetdienst ist tausendfach von "alegría" die Rede, dem spanischen Wort für Freude. Von einem Wunder spricht der deutsche evangelische Auslandspfarrer Friedemann Bauschert in der chilenischen Hauptstadt Santiago. Er verfolgt die Rettung der verschütteten Minenarbeiter aber auch mit gemischten Gefühlen. "Es ist toll, es ist großartig, ich würde es auch ein Wunder nennen", so der 44-Jährige. Zugleich sei es aber auch ein riesiges Medienspektakel.

Euphorische Freude in Chile: Bis zum frühen Mittwochabend war mehr als die Hälfte der 33 verschütteten Kumpel gerettet. Unter lautem Jubel schlossen die Bergleute ihre Frauen und Kinder in die Arme. 69 Tage zwischen Angst und Hoffnung in mehr als 600 Metern Tiefe gingen für sie glücklich zu Ende. Nie zuvor musste ein Bergmann solange unter Tage ausharren. Die Männer schrien, weinten und umarmten glückstrunken die Helfer am Schacht. Die Rettungsaktion hatte in der Nacht begonnen. An der Oberfläche wartete - neben den Angehörigen - auch Chiles Präsident Sebastián Piñera. Rund um den Globus hofften Millionen auf einen glücklichen Ausgang des Dramas.

Die Rettung in der engen Kapsel mit dem Namen "Fenix 2" (Phönix) verlief in den ersten zwölf Stunden völlig reibungslos. Weniger als eine Stunde dauerte es im Schnitt, die Kapsel zu prüfen, hinabzulassen und einen Kumpel nach oben zu ziehen. Als Kumpel Nummer 17 kehrte Omar Reygadas Rojas an die Oberfläche zurück. Die Helfer zogen den Mittfünfziger um 13.39 Uhr Ortszeit (18.39 Uhr MESZ) aus der Rettungskapsel. Er ist Witwer und arbeitet seit drei Jahrzehnten im Bergbau. Verschüttet war er zuvor schon dreimal.

Schnell vorangekommen

Die Bergung kam schließlich so schnell voran, dass der letzte Kumpel noch am Mittwoch (Ortszeit) das Licht der Sonne wiedersehen könnte. "Wir rechnen damit, dass die Befreiung in sieben bis acht Stunden abgeschlossen sein wird", sagte Präsident Piñera kurz bevor der 14. Kumpel um 16.28 Uhr MESZ unter großem Applaus aus der Rettungskapsel kletterte. Als letzter Kumpel sollte Schichtleiter Luis Urzúa in die Kapsel steigen, der in der Tiefe entscheidend zum Zusammenhalt der Gruppe beitrug.

Als erster war Florencio Ávalos um kurz nach Mitternacht Ortszeit (5.10 Uhr MESZ) mit der engen Rettungskapsel aus dem unterirdischen Gefängnis befreit worden. Es folgte Mario Sepúlveda, der die Menge mit einem bewegenden Jubelausbruch rührte. Der jüngste der Kumpel, Jimmy Sánchez (19), wirkte nach dem Ausstieg aus der Kapsel deutlich angeschlagen. Chiles Gesundheitsminister war guter Dinge, dass die Bergleute die wochenlangen Strapazen körperlich ohne große Probleme überstehen. "Sie sind in einem sehr guten Gesundheitszustand", sagte Jaime Mañalich.

Sorge um Zukunft der Geretteten

Bauschert gab unterdessen zu bedenken, offenbar wisse die Regierung die Rettung der Bergleute ganz gut für ihr Ansehen zu nutzen. Das glückliche Ereignis komme gerade recht, um etwa von dem Hungerstreik der Mapuche-Indianer und ihren Forderungen abzulenken. Den Theologen, der seit einem halben Jahr Pfarrer der lutherischen Versöhnungsgemeinde mit etwa 250 Gläubigen in Santiago ist, bewegt auch die Sorge um die Zukunft der geretteten Minenarbeiter. "Die Akut-Betreuung ist perfekt", sagt er. Aber was geschehe in ein paar Wochen mit den Mineros, "wenn die Öffentlichkeit nicht mehr hinguckt, die Mine geschlossen ist, und sie arbeitslos sind?"

Die Rettungsaktion kann laut Bauschert das Nationalgefühl und den Stolz des wirtschaftlich aufstrebenden Chile stärken: "Wir können das, wir schaffen das." Aber es gebe auch zu denken, dass solche unsicheren Bergwerke überhaupt betrieben würden. "Das Jahr 2010 hat Chile ganz schön durcheinander gewirbelt", sagte Bauschert. Nach dem schweren Erdbeben im Februar hätten die staatlichen Stellen viel Kritik auf sich gezogen, weil sie zu spät um ausländische Hilfe gebeten hätten. Damals kam es auch zu Plünderungen. "Da ist einiges aufgebrochen, an angestauter Aggression und auch an Solidarität", so Bauschert. "Es brodelt, aber es gibt auch ein Wir-Gefühl." Trotz enormer Wirtschaftserfolge sei das Gefälle zwischen Arm und Reich sehr groß.

"Heute sind wir alle Chilenen"

Weltweit wurde die Rettung live verfolgt. "Wir sind bei unseren Kollegen in Chile. Ich möchte unserer Schutzpatronin - der Heiligen Barbara - Dank sagen", sagte ein Bergmann im Bergwerk Saar. Die Menschen im österreichischen Örtchen Lassing, in dem 1998 ein Bergmann und zehn Helfer verschüttet worden waren, freuten sich ebenfalls über den glücklichen Verlauf. Beim Internetdienst Twitter war alles voller "alegría", dem spanischen Wort für Freude. Überschwänglich beschrieben viele ihre Gefühle. "Heute sind wir alle Chilenen", hieß es. "Wir sind mit Dir, Chile!"

Gefreut haben dürften sich die oft tiefgläubigen Chilenen vor allem über die Worte von Papst Benedikt XVI. "Ich empfehle die Bergleute, die in der Atacama-Region in Chile verschüttet sind, weiterhin mit Hoffnung der Güte Gottes", sagte das katholische Kirchenoberhaupt in Rom. Auch weltliche Führer fanden wohlwollende Worte. US-Präsident Barack Obama wünschte Glück. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso erklärte in einem Schreiben: "Die Kameradschaft und die Widerstandskraft der Bergleute, die Planung und Effizienz der Rettungsaktion und die Solidarität aller haben der Welt eine Botschaft der Hoffnung und Zuversicht gegeben."

Auch die Kanzlerin freut sich

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ließ ebenfalls ihre Freude ausdrücken. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte: "Unsere Gedanken und unsere guten Wünsche sind bei den Chilenen - bis zu dem Moment, wo der letzte gerettet ist." Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) sagte: "Ganz Deutschland freut sich mit den Bergleuten und ihren Angehörigen. Der erfolgreiche Beginn dieser Rettungsaktion ist ein modernes Wunder." Auch Spaniens König Juan Carlos freute sich über den Erfolg der Chilenen.

Boliviens Präsident Evo Morales kam, um den einzigen Nicht-Chilenen im Team, Carlos Mamani aus Bolivien, zu besuchen. Der Sender BBC berichtete, Mamani sei eingeladen, in der Präsidentenmaschine zurück in die Heimat zu fliegen. Als Mamani aus der Kapsel stieg, schwenkten Chiles Präsident Piñera und einige Helfer bolivianische Fähnchen. Die gespannten Beziehungen der Länder schienen vergessen. Die Rettung Mamanis sei das Symbol einer neuen Einheit zwischen beiden Ländern, lobte die Zeitung "Los Tiempos".

"Ich war beim Teufel, aber Gott hat gewonnen"

Angehörige, Bergleute und auch die etwa 1.600 Journalisten aus aller Welt reagierten im Lager Esperanza mit Jubelschreien und Freudenausbrüchen auf jede neue Rettung. Auch bei Berichterstattern flossen die Tränen. Luftballons in den chilenischen Nationalfarben Rot, Weiß und Blau stiegen in den Himmel. "Die Erde hat einen Mann geboren", formulierte das chilenische Staatsfernsehen, als der erste Kumpel aus der engen Rettungskapsel mit dem spanischen Namen "Fenix 2" stieg. "Das hat den chilenischen Traum erfüllt", sagte Präsident Piñera voller Stolz über die wie am Schnürchen laufende Aktion.

Sepúlveda wurde wie ein Rockstar bejubelt. "Ich war bei Gott, ich war beim Teufel, sie kämpften um mich, Gott hat gewonnen", sagte er im ersten Interview nach der Rettung. Sein Kollege Illanes antwortete auf die Frage, wie die Fahrt denn gewesen sei: "Wie eine Vergnügungstour." Claudio Yáñez, der seiner Freundin versprochen hatte, sie nach der Rettung zu heiraten, wurde von seinen beiden weinenden Töchtern umarmt. Die Bilder von der unglaublichen Freude über die Rettung konnten auch die anderen Kumpel in mehr als 600 Metern Tiefe sehen.

Behelfslazarett und Klinik

Die Geretteten wurden in ein bereitstehendes Behelfslazarett getragen, wo sie kurz untersucht werden. In dem abgeschirmten Bereich durften sie mit Angehörigen reden, dann wurden je vier der Kumpel zusammen mit Hubschraubern in die Klinik der nahe gelegenen Stadt Copiapó geflogen. "Ich bin so froh, danke Gott, dass er gut zurückgekommen ist", sagte der Vater von Ávalos. "Alles Schlimme liegt jetzt hinter uns und alles Schöne vor uns", sagte Alicia Campos, Mutter von Daniel Herrera. Ihr Sohn wurde als 16. gerettet.

Die Bergleute hatten seit dem 5. August in der Kupfer- und Goldmine in der Atacamawüste festgesessen. Um mit den knappen Ressourcen zu haushalten, aßen sie lediglich alle zwei Tage zwei Löffel Thunfisch. Erst nach 17 Tagen konnte die Gruppe ein Lebenszeichen absetzen. Die Internationale Föderation der Chemie-, Energie-, Bergbau- und Fabrikarbeitergewerkschaften (ICEM) in Genf schätzt, dass jedes Jahr mindestens 12.000 Kumpel bei ihrer Arbeit ums Leben kommen. Präsident Piñera sagte: "In den ersten Tagen, als wir nicht wussten, ob sie noch leben, ob sie tot sind oder wo sie sind, haben vielleicht manche die Hoffnung aufgegeben. Aber andere nicht. Deshalb hat Chile sich bewiesen."

dpa/epd