NATO zum Dritten: Neue Strategie rückt näher
Fünf Strategien hat die NATO bisher schon gehabt, jetzt kommt die sechste. Nicht alles wird neu, aber vieles wird anders. Der Beistand in der Not bleibt. Aber das transatlantische Bündnis setzt nun stärker auf die Abwehr von Gefahr und nicht nur auf eigene Waffen.
12.10.2010
Von Dieter Ebeling

Anders Fogh Rasmussen ist überzeugt: "Die Zeit für die NATO 3.0 ist gekommen." Der Generalsekretär des Nordatlantischen Bündnisses will der NATO in den kommenden Wochen eine neue Strategie geben. Und der Däne, der gerne twittert, Videobotschaften verschickt und chattet, spricht von der NATO wie von einer neuen Softwareversion seines Computers. NATO 1.0 war die 1949 gegründete Allianz, die im Kalten Krieg einen klaren Gegner hatte. NATO 2.0 war das Bündnis nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, als einstige Feinde reihenweise der Allianz beitraten.

Die Details sind noch geheim

Noch ist die "dritte Version" der NATO im Detail zwar geheim, doch die Grundzüge sind bekannt. Die Stichworte lauten neue Bedrohungen und globale Machtverschiebungen. Rasmussens Entwurf, der den Außen- und Verteidigungsministern am Donnerstag in Brüssel bei ihrem ersten gemeinsamen Treffen seit 1999 vorliegt, ist Diplomaten zufolge in den entscheidenden Punkten bereits Konsens. An der offiziellen Verkündung der neuen Strategie beim NATO-Gipfel am 19. November in Lissabon besteht kein Zweifel.

Die zwei großen Strömungen im Bündnis - einerseits neue Mitglieder mit Ostblock-Erfahrung und der Betonung auf militärischem Schutz vor Russland und andererseits alte Mitglieder mit Willen zu politischer Konfliktlösung - seien von Rasmussen verbal ausgesöhnt worden, heißt es. Dennoch ist noch einiges zu tun.

Multilaterale Raketenabwehr

Von einer "Wegscheide" hört man im NATO-Hauptquartier reden, wenn es um den Lissabon-Gipfel geht. Denn die Europäer werden zusammen mit den USA eine Raketenabwehr in Auftrag geben. Nachdem US-Präsident Barack Obama das Vorhaben zu einem gemeinsamen, langsam wachsenden Projekt von USA und NATO machen will (und damit Abschied vom bilateralen Vorhaben mit Polen und Tschechien seines Vorgängers George W. Bush nimmt), dürften in Lissabon alle 28 Staaten der Abwehr zustimmen. Obwohl sich beispielsweise die deutsche Regierung mit dem offiziellen Ja-Wort zu dem Großvorhaben noch Zeit lässt. Und für Frankreich, das seine Atomraketen ebenso wie seine Raketenabwehr völlig aus der NATO heraushält, müssen auch noch kunstvolle Formulierungen gefunden werden.

Die Raketenabwehr soll Europa beispielsweise gegen Bedrohungen aus dem Iran schützen. Rasmussen betont immer wieder, dass die Raketenabwehr "kein Ersatz für nukleare Abschreckung" sei, sondern diese nur ergänze. Tatsächlich aber haben viele Verbündete neue Hoffnungen auf einen Abbau nuklearer Rüstung, sollte ein Abwehrsystem gegen Atomraketen tatsächlich funktionieren. Vor allem dann, wenn es gelingen sollte, die Russen mit ins Abwehr-Boot zu holen, das damit an Gewicht gewänne.

Weg mit den Atomwaffen in Deutschland

Im NATO-Hauptquartier heißt es, beim Gipfel könne ein neuer Abrüstungsausschuss der NATO ins Leben gerufen werden, der sich mit allen Rüstungskontrollfragen beschäftigt, die das Bündnis bisher fast ausschließlich den Mitgliedsstaaten überlassen hat. Zudem könne eine großangelegte Überprüfung ("Posture Review") der militärischen Fähigkeiten, die die NATO künftig noch braucht, eingeleitet werden. Die ganz besonders von den Deutschen geforderte Beseitigung von 160 bis 200 taktischen US-Atombomben in Europa ist dabei nur eine von vielen Fragen.

Beratungs- und Formulierungsbedarf gibt es auch noch beim Kernstück der NATO: Artikel 5 sieht den Beistand für den Fall eines militärischen Angriffs auf ein Bündnismitglied vor. Manche Staaten, beispielsweise Estland, wollen, dass dieser Beistand etwa auch für den Fall von Computerangriffen oder gestörter Energieversorgung gilt. Rasmussen möchte "konstruktive Unklarheit" in dieser Frage, Deutschland sieht elektronische Kriegsführung und Energieprobleme klar jenseits des Geltungsbereichs von Artikel 5.

Fast einfach wird da die Entscheidung der Verteidigungsminister am Donnerstag, die Zahl der NATO-Kommandozentralen und der NATO-Agenturen drastisch zu kürzen. Denn die Frage, aus welchen Orten die NATO verschwindet, wird erst später entschieden. Dann geht der Streit erst richtig los, sagen Militärs.

dpa