In seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" wirft Thilo Sarrazin einige wichtige Fragen der gegenwärtigen Integrationspolitik auf. Doch mit seinen provokanten Thesen, zum Teil in menschenverachtendem Ton formuliert, dreht er der notwendigen Debatte gleich wieder den Hahn zu. Der SPD-Politiker vermischt genetische mit sozialen Fragen, malt bevölkerungspolitische Horrorszenarien an die Wand, macht pauschal Stimmung gegen Türken und Araber in Deutschland. Die Botschaft: Muslime wollen nicht integriert werden und sollten deshalb möglichst verschwinden, bevor sie Deutschland endgültig islamisieren.
Integration ist ein ernsthaftes Problem. Welche Rolle Religionen und speziell der Islam dabei spielen, ist unklar. Jedenfalls sollte man darüber viel eher reden als über schlechte Bücher und die Frage, ob und was man jetzt noch sagen dürfe oder nicht. Prompt aber springt selbst Bundespräsident Christian Wulff über Sarrazins Stöckchen und spricht einen Satz aus ("Der Islam gehört zu Deutschland"), den man als begeisterter Leser des Ex-Bundesbankerbuchs nur verneinen kann. Vor zwei Jahren sagte Wolfgang Schäuble im Bundestag genau den gleichen Satz, ohne öffentliche Reaktion. Das zeigt, wie sich die Stimmung gewandelt hat.
Wachsende Deutschenfeindlichkeit?
Auf der Welle schwappt viel Treibgut ans Ufer. SPD-Chef Sigmar Gabriel wirbt forsch für die Verbannung von Integrationsfeinden. Die hessische CDU mit Landeschef Bouffier und Familienministerin Schröder feilt fleißig an ihrem Profil und moniert die wachsende Deutschenfeindlichkeit an Schulen und in der Öffentlichkeit. Das Problem wurde jüngst auch von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) beklagt – doch haben die Beschimpfungen als "deutsche Schlampe" oder "Schweinefleischfresser" so stark zugenommen, dass man jetzt ein Thema daraus machen müsste? Oder passt das Lamento nur wunderbar ins Sarrazinsche Schema von den Deutschen als Minderheit im eigenen Land?
Die lautstärkste Minderheit in Deutschland sind die Bayern. Ihr Landesvater Horst Seehofer (CSU) hat in den vergangenen Wochen genug Sarrazin inhaliert, um einen Zuwanderungsstopp "aus fremden Kulturkreisen" zu verlangen. Gemeint sind Muslime aus der Türkei und Arabien. Auch wenn der bayerische Ministerpräsident zurückrudert und sich missverstanden fühlt: Mit solchen Attacken will er nicht zu einer sachlichen Debatte beitragen, sondern eher sein Image als Opportunist loswerden, das ihn selbst in eigenen Kreisen hartnäckig verfolgt. Zudem sieht er die konservative Leerstelle, die sich gegenwärtig in der Union auftut – genau dort stößt er hinein.
Vorbild aus der Alpenrepublik
Auch die schiere Lust an der Provokation treibt Seehofer an. Vorbild ist ihm der Rechtspopulismus österreichischer Prägung - Jörg Haider ist zwar seit genau zwei Jahren tot, doch sein Geist lebt in der an Bayern grenzenden Alpenrepublik weiter. Die rechtspopulistische FPÖ, einst Haiders Machtbasis, machte im Vorfeld der Wiener Landtagswahl verstärkt gegen die Zuwanderung von Ausländern mobil – und konnte am Sonntag ihre Stimmenzahl fast verdoppeln. Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) mahnt zwar, die Sorgen der Bevölkerung zu Integrationsfragen ernst zu nehmen, sagt aber auch: "Wir werden aber sicher nicht die Leute gegeneinander aufhetzen."
Genau das aber bewirken die deutschen Debatten über einen Zuwanderungsstopp oder die vermeintliche Deutschenfeindlichkeit auf Schulhöfen: Leute gegeneinander aufzuhetzen. Das Klima anzuheizen, letztlich zu vergiften. Es fehlen gegenwärtig die moderaten Stimmen, die der neuen, sarrazinisierten politischen Korrektheit entgegentreten. Selbst eine sonst besonnene Frau wie Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) hat in diesen Tagen nichts anderes zu tun, als die Muslime aufzurufen, Gewalt im Namen ihrer Religion zu verurteilen - als ob gemäßigte Geistliche das nicht die ganze Zeit täten. Schavan fordert Respekt für die Christen in islamischen Ländern, etwa für ihren Wunsch, dort Kirchen zu bauen.
"Haben genügend Kirchen in der Türkei"
Dabei sagen Kenner wie der langjährige Islambeauftragte des Erzbistums Paderborn, Aloys Butzkamm, ganz klar: Neue Kirchen etwa in der Türkei sind nicht nötig. "Wir haben genügend." Eine verblüffende Aussage, die so gar nicht in den Mainstream der gegenwärtigen Türkei- und Islamschelte passen will. Und gerade deshalb umso ernster genommen werden sollte. Denn die Vorbehalte gegenüber Moscheen in Deutschland werden oft damit begründet, dass die Christen in muslimisch geprägten Regionen keine Kirchen hätten. Dass sie dort oft bedrängt und verfolgt werden, steht außer Frage. Aber nicht jedes Klischee ist auch gleich Wirklichkeit.
Was aber ist Tatsache, wo beginnen Meinung und Stimmungsmache? Auch in der Integrationsdebatte wäre es hilfreich, zunächst einmal bei den Fakten zu bleiben. Nach Angaben von Innenminister Thomas de Maizière (CDU) sind die allermeisten in Deutschland lebenden Ausländer integrationswillig. Zehn bis 15 Prozent sind es nicht. Sanktionen bis hin zur Ausweisung sind für sie bereits jetzt möglich. Ebenso gibt es de facto einen Zuzugsstopp für Nicht-EU-Ausländer - Studierende, Hochqualifizierte und Flüchtlinge ausgenommen. Und was die Türkei angeht: Seit 2006 verlassen mehr Türken die Bundesrepublik, als ins Land kommen. Seehofer stößt sich nicht an solchen Tatsachen. Sarrazins Saat scheint aufzugehen. Fragt sich nur, welcher Wald da herangezüchtet wird. Am Ende des Herbstes ist jeder Baum braun.
Bernd Buchner ist Redakteur bei evangelisch.de und zuständig für die Ressorts Politik und Religion.