Stuttgart sucht Schlichter, Mappus will Frieden
Der umstrittene Polizeieinsatz in Stuttgart hat zumindest in einem Punkt Einigkeit zwischen Gegnern und Befürwortern des Bahnhofsumbaus gebracht: Der Konflikt soll mit Hilfe eines Schlichters entschärft werden. Unterdessen protestierten am Montagabend erneut Zehntausende gegen Stuttgart 21.
05.10.2010
Von Roland Böhm

Nach der Eskalation der Gewalt im Streit um Stuttgart 21 sind die Kontrahenten um eine Rückkehr zum Dialog bemüht. "Ich will alles dafür tun, dass deeskaliert wird", sagte Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU). Man sei an einem Punkt, "wo man miteinander reden muss". Befürworter und Gegner von Stuttgart 21 suchen einen Schlichter, der den Konflikt entschärft.

Mappus kündigte an, nach der anhaltenden Kritik am massiven Polizeieinsatz gegen die S-21-Gegner in der Vorwoche seine Regierungserklärung um einen Tag vorzuziehen und schon am Mittwoch zu dem Milliarden-Bahnprojekt zu sprechen. Dann werde er den Gegnern Angebote machen. Zehntausende protestierten unterdessen am Montagabend erneut gegen das umstrittene Bahnprojekt im Stuttgarter Schlossgarten.

Überreaktion der Polizei?

Der Polizeieinsatz gegen Demonstranten mit hunderten Leichtverletzten muss nach Ansicht der Grünen lückenlos aufgeklärt werden. An diesem Dienstag befasst sich der Innenausschusses des Landtags in einer Sondersitzung mit dem Polizeieinsatz. Klarheit über den Polizeieinsatz erwartet sich Mappus von Videos, die dort gezeigt werden sollen. "Nach allem, was mir vorliegt, kann ich nicht daraus schließen, dass die Polizei überreagiert hat."

Als möglichen Streitschlichter brachten die Grünen im Landtag den ehemaligen CDU-Generalsekretär Heiner Geißler (80) als Vermittler ins Gespräch. FDP-Chef Guido Westerwelle schlug den Bürgerrechtler Joachim Gauck vor. Dieser hat nach Angaben seines Vereins "Gegen Vergessen Für Demokratie" aber keine Zeit dafür.

Erst Baustopp, dann Vermittlung

Auch SPD-Chef Sigmar Gabriel sprach sich dafür aus, einen Vermittler einzusetzen; ebenso Birgit Homburger, Chefin der FDP-Bundestagsfraktion. Der Moderator solle aus Baden-Württemberg vorgeschlagen werden, sagte FDP-Generalsekretär Christian Lindner. Auch Grünen-Chef Cem Özdemir kann sich einen neutralen Vermittler vorstellen. Zunächst müsse es bei dem Milliardenbahnprojekt aber einen Baustopp geben. Sollte die Bahn die Bagger ruhen lassen, sei im Gegenzug eine Demonstrationspause denkbar, sagte der Stuttgarter Grünen-Verkehrsexperte Werner Wölfle.

Die neuen Sprecher des Bahnprojekts, Udo Andriof und Wolfgang Dietrich, schränkten die Vorstöße jedoch postwendend ein: Ein Politiker oder ehemaliger Politiker komme für sie als Mediator nicht infrage, sagte das Sprecher-Duo den "Stuttgarter Nachrichten".

Zugleich bekräftigten die Projektträger ihre Kritik an den Gegnern des Bahnhofumbaus: Baden-Württembergs Justizminister Ulrich Goll (FDP) bezeichnete die Demonstranten in der "Financial Times Deutschland" als "unduldsam und wohlstandsverwöhnt". Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) monierte im ZDF, dass das Aktionsbündnis "jeden Tag neue Gerüchte" streue, Ängste schüre und die Befürworter des Projekts systematisch diffamiere. Bahnchef Rüdiger Grube hatte für Aufregung gesorgt, als er sagte, es gebe kein Widerstandsrecht gegen einen Bau: "Bei uns entscheiden Parlamente, niemand sonst."

Stuttgart 1997: Aufnahmen von der "Offenen Buergerbeteiligung" zu Stuttgart 21 mit hitziger Diskussion über die Beteiligung der Bürger. Video: Stephan Koeperl, mit CC-Lizenz

Große Protestaktion am Samstag

An der ersten sogenannten Montagsdemonstration nach dem Polizeieinsatz gegen Stuttgart-21-Gegner nahmen mehrere zehntausend Menschen teil. Die Veranstalter zählten etwa 55.000 Demonstranten, die sich bei mildem Herbstwetter im Stuttgarter Schlossgarten einfanden. Die Polizei sprach von mindestens 25.000 Menschen. Erwartet worden waren zunächst nur 20.000 Teilnehmer. Nächster Höhepunkt soll eine große Protestaktion am Samstag sein.

Der frühere baden-württembergische SPD-Chef Erhard Eppler sprach sich erneut für einen Volksentscheid aus. Er sagte im Deutschlandfunk, die Situation sei "so verfahren, wie sie nur verfahren sein kann". Daher müsse das Volk entscheiden, auch wenn das juristisch schwierig sei.

Die Baumfällarbeiten für Stuttgart 21 könnten sich als rechtswidrig herausstellen: Nach dpa-Informationen wurde das Verwaltungsgericht Stuttgart von der Deutschen Bahn nicht über ein Schreiben des Eisenbahnbundesamtes informiert. Dieses hatte in der vergangenen Woche naturschutzrechtliche Zweifel wegen der Baumfällungen angemeldet. Dennoch wurden in der Nacht zum Freitag unter massivem Polizeischutz 25 Bäume im Schlossgarten abgeholzt. Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) erstattete Anzeige "wegen einer Ordnungswidrigkeit" bei der Stadt Stuttgart.

Ramsauer: Wo kommen wir denn hin?

Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) forderte die Stuttgart-21-Gegner auf, die rechtsstaatlich getroffenen Entscheidungen für das Bahnprojekt zu respektieren. "Ich bin nicht besonders glücklich darüber, dass so getan wird, dass Demonstrationen rechtsstaatliche und demokratische Prozesse ersetzen sollen", sagte der CSU-Politiker im Bayerischen Rundfunk. "Ich frage mich, wo kommen wir in Deutschland hin, wenn diese nicht mehr geachtet werden." Stuttgart 21 sieht den Umbau des Stuttgarter Kopfbahnhofs in eine unterirdische Durchgangsstation und deren Anbindung an die geplante ICE-Neubaustrecke nach Ulm vor.

dpa