Ibrahim Bassal spricht mit hörbar Berliner Akzent, schnell und eindringlich, wenn es ihm wichtig wird, wenn es um seine Identität geht, wenn es um seinen Nationalstolz geht. Er kam als 15-Jähriger Flüchtling nach Deutschland, heute ist er 38. Die längste Zeit seines Lebens hat er hier verbracht und längst besitzt er einen deutschen Paß. "Ich bin deutscher Ausländer in Neukölln. Ich bekenne mich als Deutscher und das kann mir kein Mensch wegnehmen", redet sich Ibrahim Bassal leicht in Rage.
Im Sommer 2010 wurden die Bassals über Deutschland hinaus bekannt. Die aus dem Libanon stammende Familie hing während der Fußballweltmeisterschaft die größte Deutschlandfahne Berlins an die Hausfassade ihres Elektrogeschäftes in der Sonnenallee, 20 mal 5 Meter, 100 Quadratmeter groß. Genauer gesagt waren es drei Fahnen, denn linksradikale Autonome rissen sie immer wieder herunter oder verbrannten sie. Die Bassals ließen sich aber nicht entmutigen und kauften immer wieder eine neue, stolzer Preis: 500 Euro pro Stück.
Wer die Chance hat, integriert sich auch
Nicht nur im Freudentaumel der Fußball-WM, sondern auch zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit wollen die Bassals ihre über drei Stockwerke reichende Riesen-Fahne wieder aufhängen. Angst vor neuen linksradikalen Übergriffen auf ihre Fahne hat er nicht. "Die linke Szene hat's langsam verstanden, dass es eine demokratische und keine faschistische Fahne ist", erklärt Ibrahim Bassal. Die Familie sei in Deutschland angekommen. Die Neffen haben bei der Bundeswehr gedient, einer mache jetzt sogar seine Ausbildung bei der Berliner Polizei, gehobener Dienst, wie er betont.
Auch Bassals Cousin Badr Mohammed steht hinter der deutschen Flagge. Er engagierte sich 17 Jahre bei der SPD in Sachen Integrationspolitik, war sogar Mitglied in der ersten Islamkonferenz unter Innenminister Wolfgang Schäuble. Jetzt ist er integrationspolitischer Sprecher der CDU von Tempelhof-Schöneberg. Für ihn steht fest, dass er und seine Familie nicht nur die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen, sondern dass sie sich auch voll integriert haben. Und das würden wohl die meisten, wenn sie dazu eine Chance bekommen. "Eine gesunde Identität eines Deutschen ist, wenn der Mensch oder die Familie sich wohl fühlt. Wenn nicht immer schief geguckt wird, wenn ein Deutscher anders aussieht, schwarze Haare hat, schwarze Haut", betont Mohammed mit Nachdruck.
Deutschland sei für sie eine Art Paradies, nicht etwa um auszuruhen, sondern um zu arbeiten. Dabei könnten er und seine Familie gerade auch die deutsche Geschichte nach 1945 gut verstehen. Auch sie seien Flüchtlinge aus dem Libanon. Sie wüssten, was Vertreibung, Verlust der alten und das Zurechtfinden in der neuen Heimat bedeuten würden. Dass ihnen nun aber in der politischen Debatte um die Thesen Thilo Sarrazins herum mangelnde Integration vorgeworfen wird, macht Badr Mohammed wütend.
"Im Endeffekt sind wir alle deutsch"
"Mutter hat uns zur Schule gebracht. Vater hat sich gekümmert, dass wir Mittag und Abendbrot bekamen. Es sind unsere Eltern gewesen, die uns hier in diesem Land integriert haben, nicht die Politiker. Wir haben 16 Jahre als Asylbewerber warten müssen ohne Arbeitserlaubnis, ohne vernünftigen Wohnsitz. Die Politik hatte nichts gemacht, dass dieser Horror aufhörte. Und wenn die Politiker diskutieren wollen, dann sollen sie mit uns als Familie diskutieren", ereifert sich der heute 44-Jährige.
Die Bassals gehen in die Offensive. Nicht nur, dass sie voller Stolz wieder ihre Nationalfahne aufhängen. Sie laden zum 3. Oktober auch Thilo Sarrazin in die Sonnenallee ein, damit sich dieser ein realistisches Bild neuer deutscher Identität machen kann. "Wir sind stolz auf unser Land. Viele sagen, dass sei ein Spruch von Neo-Nazis. Ich werde den Spruch jetzt wegnehmen von den Nazis. Wir neuen Deutschen sollten Hand in Hand mit den anderen Deutschen stolz sein auf unser Deutschland", redet sich Mohammed ähnlich in Rage wie sein Cousin.
Auch Ibrahim Bassal würde sich freuen, zusammen mit Thilo Sarrazin am Tag der deutschen Einheit unter der deutschen Flagge feiern und reden zu können. Auch über ihren Glauben. Alle in ihrer Familie seien gute Muslime geblieben. Religion sei aber keine Frage für oder gegen Integration. "Deutschsein hat mit dem Glauben absolut nichts zu tun. Du kannst ein Jude sein, ein Moslem sein, ein Christ. Im Endeffekt sind wir alle deutsch und leben unter dem deutschen Gesetz", sagt Ibrahim Bassal nationalbewusst.
Rassismus ist noch lange nicht überwunden
Ein Stadtteil weiter in der Kreuzberger Gneisenaustraße kann Sharon Adler weder dem alten noch dem neuen deutschen Nationalstolz etwas abgewinnen. Seit 10 Jahren betreibt die Fotografin und Publizistin von hier aus das feministisch-jüdische Onlineportal aviva-berlin.de. Ein Meer von deutschen Fahnen löse bei ihr nur Beklemmungen aus, sagt sie. Obwohl in Deutschland geboren, sieht sie sich nicht als Deutsche, sondern als Berlinerin. Für Sharon Adler herrscht in Deutschland weiterhin ein fremdenfeindliches Klima und eben auch ein latenter Antisemitismus. Gerade sie als Jüdin habe dieses Grundgefühl, das sie nur aus der Verfolgungsgeschichte ihres Volkes heraus erklären kann, nämlich irgendwie immer auch auf gepackten Koffern zu sitzen.
"Die aktuell von Herrn Sarrazin angestoßene Debatte zeigt, dass wir so multikulti-akzeptiert längst nicht sind. Und die Zahlen der Amadeu-Antonio-Stiftung zeigen, dass die rassistisch bedingten Übergriffe drastisch angestiegen sind", warnt die 47jährige Sharon Adler. Das Judentum sei für sie vor allem eine Angelegenheit der Kultur, Literatur, Musik, des Theaters. Auch wenn sie sich nicht als ausgeprägt religiös empfindet und von ihrer Mutter nicht in die Synagoge gezwungen wurde, so kann Sharon Adler doch behaupten, dass auch der Glaube ein Teil ihrer Identität ist. "Meine Religion beschränkt sich darauf, zwei Mal im Jahr in die Synagoge zu gehen. Ich habe aber dafür gesorgt, dass meine Tochter ihre Bat Mitzwa macht, was auch nicht einfach war, weil sie zwischendurch mal keinen Bock hatte und lieber segeln gehen wollte anstatt zu lernen."
Identitäten kommen von innen wie von außen
Identität ist nicht nur eine Frage der Selbst-, sondern immer auch der Fremdzuschreibung. Schlimm sei es für sie als Jüdin, in Gesprächen immer sofort mit Israel identifiziert zu werden. Diese Fremdzuschreibung hat sie ganz und gar nicht zum Teil ihrer Identität gemacht. Sharon Adler selbst war seit 20 Jahren nicht mehr in diesem Land. Sie möchte nicht ständig auf die israelische Politik angesprochen werden. "Diese Identitäten werden einem ja von außen übergestülpt. In welche Identität packen die mich denn jetzt hier gerade? Bin ich in einem jewish circle unterwegs, da geht es um ganz andere Fragen: Woher kommst Du, wohin gehst Du, welche Sprachen sprichst Du, in welche Synagoge gehst Du und vor allen Dingen, in welche Synagoge gehst Du nicht?", lacht Sharon Adler.
Vielleicht nutzt sie ja den 20. Jahrestag der deutschen Einheit zu einem Herbstspaziergang in den Nachbarbezirk Neukölln. Und dann ergibt sich in der Sonnenallee eventuell auch die Gelegenheit, unter Berlins größter deutscher Flagge zusammen mit den Bassals und Herrn Sarrazin über die deutsche Identität weiter nachzudenken.
Thomas Klatt ist freier Journalist in Berlin.