Um diese Jahreszeit ist er meist schon beim ersten Morgengrauen auf dem Feld und kehrt erst spät abends heim. Die Ernte muss eingeholt werden, ehe das Wetter umschlägt und die Herbststürme beginnen. Jetzt muss die ganze Familie mit anpacken. Spielen, lernen, Freunde treffen? Keine Zeit. Erst wenn die Felder leer und die Speicher gefüllt sind, können alle wieder entspannen. Erst muss sich zeigen, was in den letzten Monaten auf den Feldern gereift ist. Wenn er der Morgensonne entgegenblickt, dann spürt er: er genießt diese arbeitsame Zeit ebenso wie die Ruhe danach – und das beruhigende Wissen, dass bald darauf der jährliche Kreislauf wieder von vorne beginnt. Wie lange geht das schon so? Jahre, Jahrzehnte, er kann es nicht sagen. Er ist groß geworden mit dem Rhythmus von Saat und Ernte, wie bereits sein Vater und dessen Väter.
Erntezeit ist Rechenschaftszeit, vor sich und vor Gott
Schon zu biblischen Zeiten verlief landwirtschaftliches Leben in diesem Takt. Manches jedoch hat sich seitdem geändert. Heute beispielsweise gibt es Erntemaschinen – vollautomatische Riesen, die die Kräfte der Menschen um ein vielfaches übersteigen und die zu lenken nur noch drei Finger bedarf. Drei Finger und jede Menge Know-How. Ohne seinen Techniker und Anlagenprogrammierer wäre er so manches Mal aufgeschmissen gewesen, ebenso wie ohne seinen Finanzbuchhalter.
Die Risiken in der Landwirtschaft haben sich verschoben: vom Arbeitskräftemangel hin zum Maschinenschaden, von der Regenarmut zum Investitionsrückstand, von der biblischen hin zur münteferingschen Heuschreckenplage. Wie das Leben der meisten Menschen in unserer westlichen Gesellschaft wird auch seines zunehmend bestimmt durch neue, andere Rhythmen. Und trotzdem ist und bleibt die Ernte eines der entscheidenden Themen menschlichen Lebens.
Erntezeit ist Rechenschaftszeit, vor sich selbst, vor anderen, auch vor Gott. Im Handlungsstrom des Lebens fungiert der Abschluss einer Ernte als Zäsur. Wir halten inne, bewerten das Gewesene und denken zugleich weiter. Was haben wir eingefahren, was bleibt noch zu erreichen und was sind wir gewillt, dafür zu tun? Der Ertrag unserer Arbeit hat viel mit uns selbst zu tun: Mit unseren Erwartungen, unserem Einsatz und natürlich unserer Leistung. Im gesellschaftlichen Vergleich von Input und Output stellt sich dabei oftmals die Frage: Was ist der gerechte Lohn für all die Mühe? Sollte nur jeder von den Früchten seiner Arbeit satt werden können? Oder leisten manche einfach so wenig, dass sie zwangsläufig auf Almosen angewiesen bleiben? Und was ist mit denen, die kaum etwas aufwenden und dann an der Börse die Millionen einfahren? Während wir erhitzt diese Fragen diskutieren, findet sich in vielen biblischen Geschichten eine ganz andere Wendung: Das handelnde Subjekt wechselt, auf die Saat des Menschen folgt der Segen Gottes – für den Return on Investment ist alleine er verantwortlich.
Längst liegt nicht alles in unserer Hand
Die Bilder unserer Leistungsgesellschaft davon, was eine gute Ernte ausmacht, schmeißt diese Erzählstruktur gehörig über den Haufen. Denn Ernten bedeutet so gesehen vor allem eines: Teilhabe am Segen Gottes. Er ist es, der es regnen lässt in Palästina, wo es anders als in Ägypten oder im Zweistromland keine großen Flussläufe gibt, mit Hilfe derer man seine Felder bewässern könnte. Er ist es, der entscheidet, ob Einsatz belohnt wird. Er schickt Sonne und Regen, Fruchtbarkeit, aber auch Heuschrecken, unfähige Vorgesetzte und andere Naturkatastrophen.
Längst nicht alles liegt in unserer Hand – daran erinnern derartige Geschichten selbst den, der nicht an eine solche höhere Macht nicht glauben mag. Und diese Unberechenbarkeit trägt im Kern eine positive Botschaft: wir können und müssen nicht alles selbst verantworten. Stattdessen können wir nur hoffen, dass es einmal mehr gut geht, oder in Sprache eines bekannten christlichen Abendgebets bitten: "Gott, verwandle Du was war in Segen".
Doch wer ernten will, muss erst einmal sähen. Das ist oft mühsam und anstrengend, aber auch ein Privileg. Studien über die psychische Situation von Arbeitslosen belegen, dass es nicht fehlendes Haben ist, das den betroffenen Menschen am meisten zusetzt, sondern das fehlende Geben. Sich einbringen zu können und dafür Wertschätzung zu erfahren, scheint – dafür sprechen auch Belege aus der Motivationsforschung – ein psychisches Grundbedürfnis von Menschen zu sein. Einige Sozialethiker halten genau deswegen den Gedanken eines bedingungslosen Grundeinkommens für das absolut falsche Signal in einer Arbeitsgesellschaft, in der die meisten Menschen ihren Platz in erster Linie über ihre Erwerbstätigkeit finden.
Jenseits der Inseln der Glückseligkeit ist der Alltag trist
Der Ertrag unseres Tuns bündelt sich zu einem Gesamtbild, dem Bild eines geschätzten Mitglieds der menschlichen Gemeinschaft, geachtet und geliebt durch sein Wirken in der Welt – als Kollege oder Chef, als Mutter oder Vater, kreative Gestalterin oder gewissenhafter Verwalter, Macher oder Ruhepol, liebenswert und auf die ganz eigene Art irgendwie erfolgreich. Ein Gesamtkunstwerk, das wiederum eingebettet ist in einen komplexen, gesamtgesellschaftlichen Erntezyklus.
Ernten in der postmodernen Arbeitsgesellschaft ist eine mühsame, eine soziale Kunst. Kooperationsökonomie nennt der Wirtschaftsethiker Josef Wieland die Wirtschaftsform, der wir in einer immer stärker global verflochtenen Weltwirtschaft entgegensteuern. Kaum jemand kann hier noch etwas alleine erreichen, Arbeitsteilung heißt das Zauberwort. Längst nicht immer bedeutet das Gemeinschaft und Geselligkeit. Noch immer arbeiten viele Menschen auch in Deutschland (wie) am Fließband, obwohl bereits seit den 60er Jahren bekannt ist, dass derart entfremdete und stupide Tätigkeiten zwar wirtschaftlich effizient sind, die Beschäftigten aber auch recht zuverlässig krank und unglücklich machen. Ernteglück entdeckten die Initiatoren der gegenläufigen Human-Relations-Bewegung in der demokratisch und mitbestimmt organisierten Zusammenarbeit möglichst weitgehend autonomer Teams.
Vieles von dem, was damals revolutionär war, hat unsere moderne Arbeitsgesellschaft leider wieder vergessen. Gerne werden Artikel geschrieben über die flachen Hierarchien und begeisternden Arbeitsbedingungen bei weitweit führenden IT-Konzernen – doch jenseits dieser Inseln der Glücksseeligkeit ist der Arbeitsalltag oft nicht nur trist, sondern regelrecht verzehrend. Denn in einem globalen Wirtschaftsfluss, über dem niemals die Sonne untergeht, bleibt keine Zeit zum Verschnaufen.
Wer nichts weiß, kann nichts ernten
Nicht nur die Sonntagsruhe gerät unter Druck, wenn der Wettbewerb zu stark wird. Ernte erscheint auf einmal existentiell – für Unternehmen als (neue) Großakteure beinah noch mehr als für die Menschen in ihnen – und der Rhythmus ihrer Erarbeitung wird beständig schneller. Ein konzertiertes Ritardando hat die Weltgesellschaft noch nicht eingeübt, das zeigt die ebenso wortreiche wie folgenlose Diskussion um die Steuerung der Finanzmärkte deutlich. Doch wozu ernten wir, wenn wir keine Zeit mehr haben, das Brot zu brechen? Worin liegt am Ende der Segen: Im reinen Haben oder nicht doch erst im Teilen und Genießen des Vorhandenen?
Das Jahr 2010 wurde zum Europäischen Jahr gegen Armut und Ausgrenzung erklärt. Zu diesem Anlass erinnern Veranstaltungen und Initiativen daran, dass auch in unserer Gesellschaft längst nicht alle Menschen die Chance auf eine Teilhabe am gesellschaftlichen Erntekreislauf bekommen. Armut wird dort konkret, wo Menschen vom Prozess des Tausches von Arbeitsleistung gegen Geld und Anerkennung abgeschnitten sind. Sich in einer solchen Situation noch selbst zu helfen fällt vielen schwer. So zeigte sich bei einer Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland über Armut auf dem Land, dass den wirklich Armen im ländlichen Raum heute des Öfteren die Fähigkeit fehlt, selbst etwas anzubauen, von dem man satt werden kann.
Zum Nichtwissen hinzu kommt soziale Isolation. Mit der Dorfgemeinschaft, die weiß, wie man Landwirtschaft betreibt, haben diese Menschen wenig zu tun: zu groß ist die Scham angesichts der eigenen Situation und zu teuer die Teilnahme am gemeinschaftlichen Leben, an Hochzeiten, Kindergeburtstagen und Kneipentratsch. Kein Grund zu feiern und auch keine Möglichkeit. Wieder ein Rhythmusgeber weniger, statt dessen Eintönigkeit.
Den Rhythmus des Säens und Erntens neu erlernen
Sie ist arbeitslos. Seit drei Jahren nun schon. Das Desinteresse ihrer Arbeitsvermittlerin an all ihren Bemühungen spiegelt nur zu deutlich, was sie längst weiß: eine Frau über fünfzig hat kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Jeden Morgen türmt sich ein Berg an Vorurteilen vor ihrem Bett und macht das Aufstehen zum Kraftakt. Wie gerne würde sie ihnen zeigen, was in ihr steckt. Doch keiner fragt, keiner lädt sie ein, keiner wünscht ihre Arbeitskraft und Lebenserfahrung. Das ist wohl die schlimmste Erfahrung.
Ein paar Häuser weiter drohen die Mitglieder der Arbeitsgesellschaft in den Fluten des Alltags unterzugehen. Die enge Taktung ihres Lebens führt manche erst beim Scheidungsanwalt wieder zusammen. Kollektive Selbstvergessenheit angesichts der kollektiven Ertragsziele – die Erntekraft ist aus dem Blick geraten. Für eine gemeinsame Zukunft müssen wir einen Schritt zurück gehen und den Rhythmus des Säens und Erntens neu erlernen. Dann wird auch uns im hier und heute Segen zuteil. So sicher wie Sommer und Winter, Tag und Nacht.
Veronika Drews-Galle, Jahrgang 1979, ist Vorstandsassistentin bei der Paul Gerhardt Diakonie e. V. in Berlin. Als Soziologin und evangelische Sozialethikerin forscht sie über ethische Reflexion und organisationalen Wandel in Wirtschaft, verfasster Kirche und Diakonie.
Der Text ist im Froh! Magazin erschienen, in der Ausgabe 4/2010 zum Thema "Ernte". Das werbefreie Non-Profit-Magazin Froh! zeichnet sich dadurch aus, dass die Autoren ihre Texte kostenlos zur Verfügung stellen. Mit christlichem Hintergrund haben sich die Macher zum Ziel gesetzt, Menschen dazu inspirieren, neu über die Gesellschaft nachzudenken, in der wir leben.