Versteckte Volkskrankheit: Jeden Fünften plagt Juckreiz
Wenn die Haut wochenlang juckt und nichts hilft, dann ist das ein ernst zu nehmendes Symptom zahlreicher Krankheiten. Dennoch wird chronischer Juckreiz oft verkannt.
02.10.2010
Von Franziska Badenschier

"Es war im tiefsten Winter, draußen lag Schnee, aber ich hätte mich am liebsten in kurzer Hose und mit T-Shirt im Schnee gewälzt. So ein Hitzegefühl war das, als ob man mir auf der Brust ein Ei hätte braten können." Vier Jahre lang hatte Nils Könemann ständig das Gefühl, dass seine Haut brannte und juckte. "Ich hätte gekokst, ich hätte alles genommen, was geholfen hätte", erzählt der heute 29-Jährige. Er war hoffnungslos. Wenn er Oberbauchschmerzen hatte, wusste er: Das kommt von der Galle oder der Leber. Aber woher der Juckreiz kam, wusste er nicht.

Auch die Chirurgen und Internisten, die er regelmäßig aufsuchte, weil er vor zehn Jahren neue Nieren und eine Leber transplantiert bekommen hatte, wussten sich nicht anders zu helfen: Sie gaben ihm in besonders schlimmen Phasen einfach Kortison. Doch das half nur immer nur kurzzeitig. Der Abstand zwischen den Schüben wurde immer kürzer. Irgendwann blieb der Juckreiz. Wochenlang. Monatelang.

Mehr Deutsche leiden an Juckreiz als an Depression

"Pruritus" nennen Mediziner den chronischen Juckreiz. In Deutschland war bereits fast jeder Fünfte einmal davon betroffen: In einer Studie, die letztes Jahr veröffentlicht wurde, hatten 17 Prozent der rund 11.000 Befragten angegeben, schon einmal sechs Wochen oder länger Juckreiz gehabt zu haben. Damit kann Chronischer Juckreiz durchaus als Volksleiden bezeichnet werden. Zum Vergleich: Schätzungen gehen davon aus, dass 15 Prozent der Erwachsenen in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben eine Depression haben. Für Depressionen braucht man sich längst nicht mehr zu schämen. Patienten mit chronischem Juckreiz werden aber immer noch stigmatisiert.

Nils Könemann hat erlebt, wie Leute die Augen verdrehen, wenn man ein Treffen mit Freunden mit der Begründung "Sorry, ich habe Juckreiz" absagt. Wer am ganzen Körper blutig gekratzte Haut hat, wird von Mitmenschen geschnitten. Manch einem wird sogar Einbildung vorgeworfen und geraten, man solle doch "in die Klapse" gehen. Dabei ist es umgekehrt: Chronischer Juckreiz macht ungeduldig und verhindert soziale Kontakte, er zehrt an den Nerven, so dass die Betroffenen nicht nur körperlich leiden, sondern auch seelisch. Was wiederum den Juckreiz verstärken kann. Es soll Pruritus-Patienten gegeben haben, die den chronischen Juckreiz nicht mehr ausgehalten haben und sich deswegen das Leben nahmen.

Eigentlich ist Juckreiz ein sinnvolles Alarmsignal

Nils Könemann ging eines Tages, als er wieder einmal beim Transplant-Check in der Münsteraner Uniklinik war, in der Dermatologie vorbei. Er wollte fragen, ob man nicht eine Salbe für ihn hätte, die seine Kratzwunden schneller verheilen ließe und die Narben versorge. Und dann stand plötzlich Sonja Ständer vor ihm. Sie hatte 2002 die Juckreiz-Ambulanz an der Münsteraner Hautklinik eröffnet. Das war damals das erste Kompetenzzentrum für Chronischen Juckreiz in ganz Deutschland – doch längst nicht alle Kollegen in Münster wussten von der neuen Einrichtung. Der junge Mann erzählt der Hautärztin kurz von seinem chronischen Juckreiz und erwähnte seine Lebertransplantation. Dann sagte sie: Ja, da können wir wahrscheinlich doch was machen. Nils Könemann brach in Tränen aus. Allein die Aussicht auf Linderung überwältigte ihn.

Juckreiz ist eigentlich ein durchaus sinnvolles Alarmsignal des Körpers: Befinden sich Insekten, Parasiten oder schädliche Pflanzen auf der Haut, so erzeugen diese Fremdkörper eine eigenständige Sinnesempfindung der Haut, unabhängig von der Schmerzwahrnehmung. Sich daraufhin zu kratzen ist ein Reflex. Für den Moment ist das auch gesund – außer, wenn der Juckreiz lange anhält und somit auch das Kratzen.

Standardtherapie gibt es nicht, sichere Heilung auch nicht

Viele Ursachen kommen für den chronischen Juckreiz in Frage: Hauterkrankungen wie Neurodermitis und Schuppenflechte natürlich, aber auch Vitaminmangel, Funktionsstörungen der Schilddrüsen oder Nervenschädigungen durch einen Unfall. Auch Kontakt mit Wasser kann schlimmen Juckreiz auslösen. Und etwa jede zehnte werdende Mutter bekommt Schwangerschaftsjuckreiz. Typischer ist aber eine gestörte Leber- oder Nierenfunktion – so wie bei Nils Könemann. Leber-Transplantate bringen oft das Problem mit sich, dass sich die Gallen-Abflussgänge zusammenziehen. Dadurch staut sich die Galle, und das sorgt für dauerhaften Juckreiz.

Eine Standardtherapie gibt es für Juckreiz-Patienten nicht. Auch kann nicht jeder geheilt werden. Nils Könemann ist aber mittlerweile juckreizfrei: "Also im Prinzip muss man ja sagen: Ich habe den Juckreiz noch, theoretisch, nur spüre ich ihn nicht mehr."


STICHWORT JUCKREIZ


Juckreiz im Reagenzglas

Im Reagenzglas kann man den Juckreiz an sich nicht nachstellen, aber man kann untersuchen, wie verschiedene Arten von Hautzellen auf verschiedene Substanzen reagieren. Wenn man beispielsweise vermutet, dass ein Neuropeptid eine Rolle spielt, gibt man sie zu den Zellen und beobachtet, ob die Zellen dann Stoffe freisetzen, die als Juckreiz auslösend bekannt sind. Umgekehrt kann man prüfen, ob eine Substanz Juckreiz unterdrücken kann.

Tierversuche

An Mäusen werden potenziell wirksame Substanzen getestet: Wenn sich die Mäuse seltener an der Käfigwand reiben, ist das ein gutes Zeichen. Auch das Bewegungsmuster wird beobachtet: Juckreiz macht nämlich ungeduldig.

Klinische Studien

Erfolg versprechende Präparate werden schließlich an Menschen – echten Patienten – getestet. Am Kompetenzzentrum Pruritus in Münster werden durchschnittlich drei oder vier solcher Arzneimittel-Prüfungen durchgeführt. Das bringt nicht nur wissenschaftliche Ergebnisse, sondern hat auch für die Betroffenen einen Vorteil, wie Sonja Ständer erklärt: "So können wir unseren Patienten die Medikamente viel früher anbieten als wenn sie regulär irgendwann auf den Markt kommen."

Stammbaum-Analyse

In der Juckreiz-Forschung können auch Stammbaum-Analysen hilfreich sein, zum Beispiel bei Patienten, die auf Wasser mit Juckreiz reagieren. Fünf Familien, in denen dieser sogenannten Aquagene Pruritus auftrat, hat eine Doktorandin von Sonja Ständer untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass das Leiden einen autosomal-dominanten Erbgang nimmt, also Töchter wie Söhne betroffen sein können und es reicht, von nur einem Elternteil die Erbanlage bekommen zu haben. Genetische Untersuchungen sollen im Anschluss klären, welche Gen oder welche Gene hier entscheidend sind.

Juckreiz-Skalen

Auch ganz grundsätzliche Fragen muss die Juckreiz-Forschung noch klären: Wie kann man Juckreiz eigentlich erfassen? Was bedeutet es, wenn ein Patient sagt, sein Juckreiz sei um 90 Prozent gelindert? Immerhin kann der Juckreiz im Tagesverlauf unterschiedlich intensiv sein und sich auch anders äußern, zum Beispiel mal eher brennend, mal eher kribbelnd. Hier entwerfen Juckreiz-Forscher zurzeit neue Skalen und werden sie mit den Betroffenen testen.


Franziska Badenschier ist freie Wissenschaftsjournalistin und lebt in Dortmund.