Stuttgart 21: Bäume fallen unter Polizeischutz
Binnen weniger Stunden sind Freitagmorgen die ersten Bäume für das Bahnprojekt Stuttgart 21 gefallen. Parkschützer und Gegner der Milliarden-Investition können nur zuschauen. Statt Eskalation gibt es gellendes Konzert mit Trillerpfeifen. Nach der Gewalt am Donnerstagabend schieben sich Polizei und Demonstranten gegenseitig den schwarzen Peter zu.
01.10.2010
Von Johannes Wagemann

Am Ende bleiben Sägespäne und betretene Gesichter. Nach der gewalttätigen Eskalation der Proteste gegen das Milliarden-Bahnprojekt Stuttgart 21 pfeifen und schreien in der Nacht zum Freitag Tausende gegen das Abholzen alter Bäume - doch sie verfehlen ihr Ziel. Das Abholzen der ersten von rund 300 Bäumen verläuft ganz nach Plan.

Fassungslos sehen die Demonstranten zu, wie gegen 1.00 Uhr die gelben Bagger anrollen und mit den an Stelle einer Schaufel befestigten Sägen loslegten. "Aufhören", "Verräter", "Schweine": die Stuttgart-21-Gegnern brüllen sich die Seele aus dem Leib.

Vor ihnen kracht und knackt es, als die Bäume nach und nach fallen und in einem Häcksler zerkleinert werden. Jedes Mal, wenn wieder ein Bagger in einen Baum reinzubeißen scheint, schwappt eine Welle von Beschimpfungen in Richtung der Arbeiter.

"Das ist einfach unfassbar"

Matthias von Herrmann von den Parkschützern möchte auch bis wenige Minuten vor dem Beginn der Aktion noch daran glauben, dass es einen Fäll-Stopp gibt. Das habe eine sichere Quelle erzählt. Als die Baumkronen dann doch auf den Parkboden fallen, sagt er: "Das kann gut sein, dass sich das dann morgen als unrechtmäßig herausstellt."

Andere haben längst aufgegeben - ein Demonstrant sitzt unter einem Baum mit einem Kreis aus Grablichtern drum herum und hat seinen Kopf trostlos auf die Hände gestützt. Er starrt auf den Boden. Eine 68 Jahre und eine 40 Jahre alte Demonstrantin stehen in der Nähe, mit Tränen in den Augen: "Solche Buchen werden hier nicht mehr wachsen", sind die beiden überzeugt. "Das ist einfach unfassbar. Statt Gesprächen gibt es nur Brachialgewalt."

Innenminister Rech: "Mütter mit Kindern müssen weggebracht werden"

Bei der abendlichen Demo am Donnerstag waren 400 Demonstranten verletzt worden, die überwiegende Mehrheit durch den Einsatz von Reizgas durch die Polizei. Baden-Württembergs Innenminister Heribert Rech (CDU) nannte den Einsatz seiner Beamten verhältnismäßig und schob die Schuld für die Eskalation den angeblich gewaltbereiten Demonstranten zu, die nicht mit den Anti-Konflikt-Teams sprechen wollten. Die Opposition im Landtag und die Demonstrationsteilnehmer bestreiten das und protestierten gegen die Polizeigewalt.

Im heute-Journal des ZDF machte Innenminister Rech am Donnerstagabend deutlich, dass er das Bauvorhaben auch gegen den Widerstand der Bevölkerung mit Polizeischutz durchsetzen wolle. Auf den Vorhalt, dass der Polizeieinsatz auch Kinder gefährdet hatte, sagte er: "Wenn Kinder in die vorderste Linie gebracht werden von ihren Müttern, von ihren Vätern, wenn sie instrumentalisiert werden, wenn sich Mütter mit den Kindern der Polizei in den Weg stellen, dann müssen sie eben auch mit einfacher körperlicher Gewalt weggebracht werden."

Kirchen: "Zurück zum gemeinsamen Gespräch"

SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles mahnte Baden-Württembergs Ministerpräsident Mappus, er trage die Verantwortung, "Staat und Bürger nicht weiter gegeneinander aufzustacheln". Die Kirchen riefen zur Gewaltfreiheit auf und appellierten an alle Parteien, "zum Tisch des gemeinsamen Gesprächs" zurückzukehren. Der Polizeieinsatz wird an diesem Freitag auch noch ein Nachspiel im Bundestag haben: Die Linke-Fraktion hatte eine Sondersitzung des Innenausschusses beantragt.

Beim nächtlichen Baumfällen im Stuttgarter Schlossgarten hingegen war von Gewalt keine Spur. Die Polizeibeamten sind zufrieden, dass es schnell über die Bühne geht. "Es hat niemand ernsthaft Schaden genommen", kommentiert ein Sprecher. Die Wasserwerfer standen vor den Demonstranten bereit. Doch sie gebrauchten - anders als am Donnerstag - nur ihre Scheinwerfer.

Für viele Beamte wartet der nächste Einsatz ohnehin bereits in ein paar Stunden. Am Freitagnachmittag rufen die Stuttgart-21-Gegner wieder mal zur Demonstration gegen das Milliarden-Projekt durch die baden-württembergische Landeshauptstadt auf.

dpa