Henning Scherf: "Wir Älteren wollen nicht bespaßt werden"
Generationsübergreifendes Miteinander statt Gegeneinander, das Alter als attraktive, gesellschaftlich geschätzte Lebensphase statt als Last: Henning Scherf glaubt fest daran, dass die demografische Entwicklung nicht in die oft beschriebenen Horrorszenarien münden muss. Leidenschaftlich streitet er dafür, alte Menschen voll zu integrieren, zu beteiligen, ihnen Verantwortung zu übertragen. Selbst bei Demenz.
30.09.2010
Die Fragen stellte Ulrich Pontes

Frisch sieht er aus. Dazu das Strahlen, die Lebhaftigkeit, der Hauch von Schlaksigkeit, wenn der Zwei-Meter-Mann seine Arme gestikulierend in Bewegung setzt - Henning Scherf hat noch immer etwas Jungenhaftes. Dabei ist Bremens SPD-Bürgermeister a. D. mittlerweile 72 Jahre alt. Und er ist nicht nur einfach Pensionär. Seine Bücher und sein eigenes Beispiel haben ihn zum Botschafter eines neuen Umgangs mit dem Altwerden gemacht.

Heute ist in Deutschland jeder Fünfte im Rentenalter - in 50 Jahren wird jeder Dritte über 65 Jahre alt sein. Über den demografischen Wandel wird viel geredet. Glauben Sie, dass man in guter Weise damit umgeht?

Henning Scherf: Ich glaube nicht, dass alle begriffen haben, dass wir gegenüber unserer Großelterngeneration zwischen 20 und 30 Jahren länger leben dürfen. Und dass immer weniger Junge nachkommen. Das wissen Experten, ja. Es reicht aber nicht, das in Fachgremien zu diskutieren. Wir alle nehmen an dieser altersveränderten Gesellschaft teil. Das Thema muss erklärt und bearbeitet werden. Übrigens muss man es nicht als Überforderung oder Skandal darstellen - es ist einfach die neue Lage.

Und Sie sind sehr bewusst Teil dieser Entwicklung?

Scherf: Ich bin da mittendrin, und ich freue mich, dass ich daran Anteil nehmen kann. Meine männlichen Vorfahren sind in den vergangenen 350 Jahren nie älter als 40 geworden. Ich bin jetzt fast doppelt so alt und fühle mich gut. Das ist doch eine tolle Ausgangslage! Richtig geschenkte Jahre sind das. Für die bin ich dankbar, freue mich erst mal darüber. Und dann frage ich: Was machst du nun damit?


2005 schied Henning Scherf auf eigenen Wunsch aus allen politischen Ämtern aus. "Ich wollte ein neues Leben anfangen", sagt er. Er begann Orgel zu spielen und zu malen, singt im Chor, ist Chorverbandspräsident, fährt Rennrad, nimmt an Hochseeregatten teil, liest regelmäßig Grundschülern vor. Im Mittelpunkt steht für ihn aber das Thema "anders alt werden". Davon handeln seine Bücher. Dafür ist er ständig auf Achse. Wie momentan: Zehn Tage saust er kreuz und quer durch die Republik, hält zwei bis drei Vorträge. Stress? Keine Spur. Scherf wirkt entspannt, fröhlich, mit sich im Reinen. Auch spontan noch ein dreiviertelstündiges Interview einzuschieben ist kein Problem.


Scherf: Ich bin 72, und so gut ist es mir noch nie gegangen. Ich habe eine neue Freiheit, eine neue Selbstständigkeit entdeckt. Ich bin belastbar, fühle mich besser als vor 20 Jahren. Ich bin in den besten Jahren meines Lebens.

Geht es mittlerweile nicht vielen jung gebliebenen Rentnern so ähnlich? Aber warum ist dann "anders alt werden" so ein Renner?

Scherf: Es gibt offenbar ein großes Publikum, das sich denkt: Mensch, der könnte uns vielleicht Mut machen, der könnte uns vielleicht zeigen, wie es anders geht. Auf der anderen Seite gibt es immer noch diese Idee vom "Ruhestand". Das ist schrecklich! "Ruhestand" ist eine zynische Formulierung. Ich will nicht in den Ruhestand, in die Ecke geschoben werden, gesagt bekommen: Nun ist es aber genug. Das ist eine völlig irre Desorientierung, dass Alte sich bitte zurückziehen und irgendwie bejuxen lassen sollen, auf Musikdampfern oder speziellen Altentagungen, wo sie dämliche Musik vorgeführt bekommen. Nein!


Die sonst äußerst sonore Stimme schießt gefühlte drei Oktaven in die Höhe, um dem hedonistischen Ruhestandskonzept ein "Nein" in rhetorisch vollendeter Empörung entgegenzuschleudern. Diese Idee findet er so was von daneben - auch wenn er zu oft über dieses Thema redet, um ernsthaft emotional zu werden.


Scherf: Wir wollen nicht bespaßt werden, sondern wir wollen beteiligt sein, uns einmischen können. Deswegen erscheint es mir auch eine Desorientierung, wenn manche Buchautoren einen Krieg der Generationen prognostizieren und alte Leute zu selbstverliebten, egomanischen Karikaturen machen. Meine Generation hat den Krieg und die Nachkriegszeit erlebt. Wir wissen: Wenn es schwierig wird, muss man zusammenrücken. Deshalb hoffe ich, dass die jetzt noch etwas Jüngeren reinwachsen werden in eine Zivilgesellschaft, die generationsübergreifend lebt. In der es hochattraktiv ist, alt zu werden. Wo die Alten im Zentrum der Gesellschaft stehen und nicht als Last gesehen werden, sondern als Erfahrungsschatz.

Aber Rentner bleiben nicht ewig rüstig.

Scherf: Das ist mein neues Thema: Beteiligung und beieinander bleiben, das nehme ich auch in Anspruch für an Demenz erkrankte Leute. Es ist ganz zentral, dass ein Demenzerkrankter in seiner vertrauten Umgebung bleiben kann. Dass er Leute um sich hat, die er kennt von früher. Und dass er mit dem, was er noch kann, tätig sein kann. Also nicht in die Ecke geschoben wird und jeden Handgriff abgenommen bekommt, sondern beteiligt wird: Kartoffeln schälen, im Garten mitarbeiten, auf Tiere aufpassen; gucken, dass die kleinen Enkelkinder nicht weglaufen - oder von einem vertrauten Menschen aus der Nachbarschaft mal in den Park oder in die Kneipe mitgenommen werden. Das kann man alles machen. So werden Demenzerkrankte plötzlich wieder Teil der Gesellschaft.


Derzeit ist Henning Scherf als Forschungsreisender in Sachen Demenz unterwegs. Er besucht spezielle Wohngemeinschaften, wo Demente in vertrauter Umgebung leben, umgeben von Angehörigen und Ehrenamtlichen, pflegerisch betreut von ambulanten Diensten. Ein Leben jenseits eines unpersönlichen Heimbetriebs. Eine Erfahrung, von der Scherf mit leuchtenden Augen erzählt.


Warum suchen Sie den Kontakt zu Demenzkranken?

Scherf: Ich will sie kennenlernen, will sehen, wie sie ihren Alltag bewältigen, was an Beteiligung, an Kommunikation noch möglich ist. Ich habe mit solchen Menschen ganz neue Nähe erlebt. Da konnten wir plötzlich Sachen bereden, die wir früher nicht hätten aussprechen können. Und ich merke, es gibt - nicht mit allen, aber doch mit erstaunlich vielen Demenzerkrankten, wenn man sie einbezieht, wenn man sie ernst nimmt und ihnen mit Respekt gegenübertritt - wunderbare Möglichkeiten, sich auszutauschen. Bis hin zu neuen Freundschaften.

Wie entsteht so ein Kontakt?

Scherf: Mit jemandem zu kommunizieren, der seinen Namen nicht mehr weiß, ist ja nicht ganz selbstverständlich. Ich habe gelernt: Das kann über Musik gehen. Wenn man gemeinsam singt, entsteht eine wunderbare Nähe, das ist angekommene, verstandene Kommunikation. Die Demenzverwirrten strahlen dann. Die Lieder sind ein Schatz, den sie in ihrer Kindheit erworben und bis heute bewahrt haben. Auch mitarbeiten dürfen und Nähe zu Tieren sind eine große Hilfe.

Und das wollen Sie voranbringen, indem Sie für das WG-Modell werben?

Scherf: Nahe beieinander bleiben, spielen und zusammensitzen - das hält Leute in unserer Gesellschaft. Das möchte ich verbreiten. Den Trägern von Seniorenheimen, den Wohlfahrtsverbänden möchte ich sagen: Ihr habt wunderbare Arbeit gemacht und die besten Absichten gehabt - aber jetzt kommen wir zu neuen Erkenntnissen. Ihr müsst eure Einrichtungen ambulantisieren, ihr müsst neue Angebote machen, die die Leute in vertrauter Umgebung halten und sie mit ihren verbliebenen Kompetenzen einbeziehen.


Der frühere Politiker will Veränderung von unten bewirken - unabhängig von Politik und Bürokratie. "Ich bin in der Zivilgesellschaft angekommen", sagt er. Da, wo zählt, was einer macht, nicht was er ankündigt. Mit eigenem Beispiel voran geht Henning Scherf beim Thema Leben teilen schon lange. Seit 23 Jahren leben er und seine Frau in einer Zehner-WG mit etwa Gleichaltrigen. Auch da könnte Demenz irgendwann ein Thema werden - und dann will Henning Scherf vorbereitet sein.


Scherf: Vielleicht erwischt mich das ja auch. Dann will ich damit sortiert umgehen können. Jetzt kann ich noch umherziehen und Erfahrungen sammeln. Und ich wünsche mir für alle von Demenz Betroffenen, dass sie sich trauen, sich an ihre Kirchengemeinde, ihre Diakonie, ihre Nachbarn zu wenden, ihre Geschwister und Kinder mit einzubeziehen. Dass sie nicht versuchen, ihre Angehörigen vor dem Thema zu bewahren, sondern dass alle gemeinsam eine menschliche Form des Zusammenlebens finden - und später des Abschiednehmens. Denn am Ende entwickelt sich aus der Demenz ja eine Sterbebegleitung. Auch die möchte ich in vertrauter Umgebung möglich machen.

Sie beschäftigen sich gezielt mit Demenz und Tod - andere verdrängen das lieber, so gut es geht. Haben Sie keine Angst?

Scherf: Ich bearbeite meine Ängste auf wirksame Weise - indem ich mich vorbereite. Ich werde immer vertrauter, und vor einer vertrauten Sache muss man keine Angst mehr haben. Ich will Krankheit und Sterben nicht verdrängen oder zu einem Problem von Fachleuten machen. Im Gegenteil. Ich möchte das so nah wie möglich an mich heranholen, weil es eine wesentliche Erfahrung für mein Leben ist. Wie ich das bisherige Leben angenommen habe, so möchte ich auch diesen Teil annehmen können und wissen, was da passiert. Und ich möchte das dann auch selbst in vertrauter Umgebung mit vertrauten Menschen erleben. Um denen, die mich dann bitte nicht alleine lassen sollen, die Angst davor zu nehmen, ist es ja vielleicht auch hilfreich, wenn ich beizeiten den Mund aufmache und mich dafür einsetze, dass andere in vertrauter Umgebung alt werden und sterben können. Denn die Erfahrung: Ich fühle mich in meiner Not getragen von Menschen, die sich darauf verlassen, dass ich sie auch trage, wenn sie in Nöte kommen - diese Erfahrung ist wunderbar.


Ulrich Pontes ist freier Journalist in Mainz.