Faust ist einer der Lieblingsstoffe der Komponisten. Zumindest war er es im 19. Jahrhundert. Louis Spohr verwandte ihn als Vorlage für eine der ersten romantischen Opern überhaupt, neben E.T.A. Hoffmanns "Undine". Robert Schumann arbeitete ein ganzes Jahrzehnt an seinen "Szenen aus Goethes Faust" für Chor und Orchester. Charles Gounod fokussierte seine Komposition "Faust" auf die Gestalt des Gretchens. Bis heute wird sie daher in deutschen Musiktheatern zumeist unter dem Titel "Margarete" aufgeführt. Hector Berlioz schuf in seiner "dramatischen Legende" einen zehn Bilder umfassenden Bogen, der, abweichend von Goethes Original, in "Fausts Verdammung" mündet.
Schließlich Arrigo Boito. Er verschrieb sich in seiner einzigen vollständigen Oper "Mefistofele" ganz der Figur des Teufels. Womit der Reigen eigentlich geschlossen scheint. Oder doch nicht? Michael Schulz, Intendant des Musiktheaters im Revier (MIR), bringt nun in seiner Gelsenkirchener Inszenierung von Boitos Sechsteiler (Prolog, vier Akte, Epilog) last not least Gott auf die Bühne.
Mit seinem "Mefistofele" attackierte der Komponist und Kritiker Boito, Librettist Ponchiellis ("La Gioconda") und Verdis ("Otello",Falstaff"), die Abschottung des italienischen Musikbetriebs gegenüber neuen Tendenzen jenseits der Alpen. Der Wortführer einer Gruppe aufbegehrender Künstler, die sich "I Scapigliati", die "Ungebundenen", nannten, bewunderte neue Trends in der Musik. Sie waren mit den Namen Beethoven, Chopin und - ganz besonders - Wagner verbunden. Schon die Wahl des urdeutschen Faust-Stoffes für die Schaffung eines neuen Typs des Melodrams wurde vom "Establishment" an den Opernhäusern Mailands oder Venedigs als Affront aufgefasst.
Die Uraufführung 1868 an der Scala geriet schon wegen der zeitlichen Dimension von über fünf Bühnenstunden zum Fiasko. Zudem konnte das Publikum wenig mit dem philosophischen Dualismus, dem ewigen Kampf von Gut und Böse, von Engel und Teufel, von Himmel und Hölle anfangen, in den Boito seine Konnotation des Faustischen eingebettet hatte. Dabei ist seine Klang und Drama gewordene Antithese von Gut und Böse ideengeschichtlich sehr dicht bei Goethe, authentischer als die Versionen eines Berlioz oder Gounod. Erst die von Boito für Bologna überarbeitete Fassung von 1875 – so mit dem hinreißenden Liebesduett "Lontano" – sicherte dem Werk Erfolg und einen anerkannten Platz in der Operngeschichte.
Teuflisch gelungen
Reflektiert man die Genese des Werks, so ist dem "Revoluzzer" Boito die Figur "Gott", die Hausherr Schulz dem "Mefistofele"-Personal hinzugefügt hat, alles andere als unähnlich, geradezu teuflisch gelungen nah. Der Schauspieler Rüdiger Frank gibt Gott als enfant terrible, das zwar kein Wort sprechen, jedoch von Herzen E-Gitarre spielen darf, mit wechselnder Mimik das Geschehen kommentiert und die Begleitung von zwei veritablen Engeln goutiert, die frisch vom himmlischen Laufsteg herzukommen scheinen.
Dieser Gott ist ein cooler Ausdruck eines inszenierten Seins, hellgrau-modischer Anzug mit klassischem Hut, zumeist ins Gesicht gezogen, ein Typ, wie er bisweilen in der neuen Kneipenkultur rund um die Symbole der heutigen Revierkultur anzutreffen ist: Dandy und jede Menge egozentrische Attitüde. Diesen Gott hat Schulz als ironische Brechung aller Vorstellungen angelegt, die sich üblicherweise mit der Imagination des mächtigen Gottes verbinden. Dieser Gott schert sich nicht um das Bild, das wir uns von ihm machen – sei es verklärend, sei es verherrlichend, sei es verniedlichend. An diesem Gott prallt jede vordergründige Assoziation, jede tief ausgreifende Interpretation ab. Dieser Gott ist Souverän, ist Instanz an sich.
Gott unprätentiös
Ist Gott in der Musik Boitos majestätisch, monumental und gigantisch, so ist er auf den Bühnenbrettern im Konzept von Schulz unprätentiös, unscheinbar, klein. Auf seiner Website "Steckbrief" gibt der Schauspieler und Musiker Frank seine Größe mit 134 Zentimeter, sein Gewicht mit 35 Kilogramm an. Die Figur Frank/Gott hebt den Gelsenkirchener "Mefistofele" mit einem Schlage auf das Niveau eines Theaters at its best. Fördert hier doch Opernregie die Auseinandersetzung mit den Konventionen unserer Wahrnehmung, mit dem Grad der Toleranz, die wir dem Fremden, dem Nicht- oder Noch-Nicht-Vertrauten gemeinhin entgegenbringen, den Grenzen des bislang Verstandenen.
Schulz hat Musiktheaterregie bei Götz Friedrich an der Hochschule für Theater und Musik Hamburg studiert. Sein Weimarer "Ring des Nibelungen" ist in lebhafter Diskussion. Sein "Mefistofele" kann dazu beitragen, endlich wieder einmal die Chancen einer nonkonformen Musiktheaterregie in den Blick zu bekommen. Zumal die Neue Philharmonie Westfalen, Opern- und Extrachor des MIR sowie das vorzügliche Solistenensemble unter Leitung Rasmus Baumanns große Oper auf die Bühne bringen. Geradezu teuflisch gut.
Nächste Termine: 2. Oktober, 9. Oktober, 17. Oktober, 24. Oktober, 30. Oktober, 7. November
Internet: Musiktheater im Revier
Ralf Siepmann ist freier Journalist und arbeitet in Bonn.