Sleep out am Michel – ohne Obdach für eine Nacht
Rund 4.000 Wohnungslose leben in Hamburg, einer der reichsten Städte Deutschlands. In der "Nacht der Wohnungsnot" konnten auch behauste Bürger an der Hauptkirche Sankt Michaelis ausprobieren, wie es ist, unter freiem Himmel schlafen zu müssen.
26.09.2010
Von Katrin Wienefeld

Es ist 20 Uhr in dieser lauen Herbstnacht in Hamburg, und der Vorplatz der Hauptkirche Sankt Michaelis, kurz Michel, ist voller Menschen. Eine eigentümliche Szenerie spielt sich hier an der sechsspurigen Ludwig-Erhard-Straße ab, knapp einen Kilometer von der Reeperbahn entfernt. Während auf der Hamburger Vergnügungsmeile ein angesagtes Rockfestival mit hohen Ticketpreisen eröffnet wird, lodern vor der Kirche Flammen aus umgebauten Ölfässern und tauchen den Platz in ein gelbes, zittriges Licht.

In der Mitte steht ein großes Zelt, Bänke und Tische sind aufgebaut, Umzugskartons liegen verstreut herum. "Nehme jede Wohnung" oder "jung, ledig, obdachlos sucht …" ist auf den Pappdeckeln zu lesen. An der Seite des Kirchenvorplatzes parken das Zahnmobil und der mobile Arztbus des Caritasverbandes, daneben rühren die Köche des Malteser-Hilfsdienstes in einem Topf mit Erbsensuppe. Links an der Mauer hocken ein paar Gestalten in der Dunkelheit. Vor ihnen liegen Schlafsäcke, Hunde tollen herum.

Suppe, Musik, Schlafen

Rund 500 Menschen sind zur "Nacht der Wohnungsnot" in die Stadt gekommen. Sleep out, Übernachten am Michel mit Musik, Suppe und Getränken – so hatte das Hamburger Aktionsbündnis gegen Wohnungsnot für die Veranstaltung geworben. "Wir wollen das Randthema Obdachlosigkeit ins Bewusstsein der Politik bringen und uns mit den Betroffenen solidarisch zeigen", sagt Organisator Stephan Nagel vom Diakonischen Werk der Hansestadt.

200 Portionen Suppe hat das Aktionsbündnis, an dem neben der Diakonie die Caritas, die Arbeiterwohlfahrt, zahlreiche Beratungsstellen und die Obdachlosenzeitung Hinz&Kunzt beteiligt sind, bei den Maltesern bestellt, mit mehr Besuchern hatten sie nicht gerechnet. Nun werden sie fast überrannt von Bürgern, Betroffenen und Mitarbeitern der verschiedenen Hilfseinrichtungen, die gekommen sind.

Die Angst vor dem Zahnarzt

Gerade betritt der Schauspieler Rolf Becker die Bühne an der Stirnseite des Platzes. Der prominente Hamburger wird die Eröffnungsrede halten. Applaus erschallt, doch ein junger Mann mit Schirmmütze eilt davon unbeeindruckt zu dem weißen Bus mit der Aufschrift Zahnmobil. "Ich habe furchtbare Angst vor Zahnärzten, aber der hier hat mir versprochen, dass er heute nur gucken wird", sagt der Mann. Er ist 26 Jahre alt, sein Gebiss besteht noch aus acht Zähnen. Die übrigen sind Stümpfe oder fehlen ganz. "Das liegt an den Drogen", sagt der Patient und steigt seufzend in die mobile Praxis.

Zwei Welten scheinen sich in dieser Nacht vor der Kirche zu treffen. Rund ein Drittel der Besucher sind Betroffene, über deren Anwesenheit sich Josef Laupheimer von den sozialen Dienstes der Caritas besonders freut. "Zu öffentlichen Veranstaltungen kommen Wohnungslose nicht gern. Viele schämen sich. Wir haben für diese Nacht viel Werbung in den Einrichtungen gemacht", sagt er. Einigen ist deutlich anzusehen, dass ihnen ein Obdach fehlt. Die Frisuren sind zersaust, vielen der Männer sind lange Bärte gewachsen und die Rucksäcke sind schwer bepackt und fleckig.

"Mich macht das wütend"

Die jungen Leute, die in der Nähe der Feuertonnen saubere Decken ausbreiten, schauen dagegen sehr munter aus, sie tragen eher trendige Kapuzenpullis. Es sind keine unmittelbar Betroffenen, sondern Studenten und Auszubildende, die von der Aktion aus der Obdachlosenzeitung Hinz&Kunzt erfahren haben. Eine von ihnen ist die 24-jährige Maria. "Ich finde diese Veranstaltung klasse", sagt sie, "Ich studiere Stadtplanung in Hamburg und mich macht es richtig wütend, dass in der Stadt seit Jahren so wenig für den sozialen Wohnungsbau getan wird".

Die anderen nicken. Sie haben alle zu Beginn ihres Studiums erlebt, wie schwierig es ist, eine günstige Wohnung zu finden. "Man braucht Kontakte, sogar, um ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft zu bekommen", sagt der 31-jährige Diplomand Robert, der sich nun zu der Runde gesellt. Sozialer Wohnraum schrumpft auch in Hamburg. Während es in den 1970er Jahren noch 400.000 Sozialwohnungen in der Hansestadt gab, sind es derzeit noch knapp 100.000. Im Jahr 2018 fallen weitere 30.000 aus der Förderung. Zugleich sind die Mieten in einigen Stadtteilen um bis zu 13 Prozent gestiegen.

Und gleich danach zur Arbeit

An der Kirchenmauer werden die ersten Schlafsäcke hingelegt. Ein hochgewachsener Mann im dunkelblauen Pullover packt sogar eine Schicht Zeitungspapier unter die Isomatten. Ist er ein Fachmann fürs Draußenschlafen? Christian von Spiegel lacht. "Ich wohne seit zwölf Jahren in Hamburg und habe in der Stadt noch nie im Freien geschlafen. Ich bin gespannt, wie es werden wird", sagt der 54-Jährige. Er arbeitet als Jurist, seine Frau im sozialen Bereich. Sie hat ihm vor drei Wochen vom Sleep out erzählt. "Ich habe sofort gesagt: Da mache ich mit. Vielleicht bringt diese Aktion ein kleines bisschen Bewusstsein für Wohnungsnot in die Öffentlichkeit. Und sei es nur, dass ich mich heute mit meinen Kollegen im Büro über meine Vorhaben unterhalten habe." Um 5.30 Uhr morgen früh wird er aufstehen und zur Arbeit gehen. Zum Glück. "Ich habe es gut, ich muss nur für eine Nacht draußen schlafen", sagt von Spiegel.

Kurz nach elf Uhr leert sich der Kirchenvorplatz. Das Zahnmobil schließt die Praxis, die Rockgruppe auf der Bühne spielt ein letztes Lied. So richtig ruhig wird es nicht vorm Michel. Unter den mitgebrachten Hunden gibt es eine Beißerei, die Besitzer streiten lauthals. Beim Wagen der Heilsarmee schenkt Klaus Fuchs Kaffee für die Wachbleibenden aus. Fuchs, der in einer Wohnunterkunft für obdachlose Männer arbeitet, kennt den klassischen Weg, der in die Obdachlosigkeit führt. "Oft ist eine Trennung der Auslöser für den sozialen Abstieg. Dann kommen Alkohol oder Drogen dazu, schließlich ist der Arbeitsplatz weg und dann die Wohnung", sagt er. Viele der Betroffenen litten zudem unter psychischen Erkrankungen.

Zu den Studenten gesellt sich ein offensichtlich obdachloser Mann. Er hält einen so langen Monolog, dass sich Student Robert nach einer Weile von ihm wegdreht. "Manchmal finde ich es schwierig, sich mit alkoholisierten oder psychisch kranken Leuten zu unterhalten. Ich bewundere die Sozialarbeiter, die sich jeden Tag um diese Menschen kümmern", meint er.

Niemand schläft freiwilig draußen

Es ist nach Mitternacht. Bei einer der Feuertonnen bleibt ein Grüppchen sitzen. Caritas-Mitarbeiter Laupheimer unterhält sich mit dem Bewohner einer Obdachlosenunterkunft. Eine junge Frau sitzt schweigend dabei. Erst nach einer Weile erzählt sie, dass sie als Gaststudentin aus Iran in Hamburg Gesang studiert. Sie sagt: "Niemand schläft freiwillig draußen, wenn es kalt ist. Es gibt viele Gründe, warum jemand in diese Situation kommt. Ich möchte einfach mein Mitgefühl mit diesen Menschen zeigen." Für einen Moment hören ihr alle zu.

Um fünf Uhr morgens fängt das Rauschen des Autoverkehrs wieder an, bald steigert es sich zu einem lauten Brummen. In die Schlafsäcke kommt Bewegung. Bei der Studentengruppe wühlt sich die 22-jährige Anna Marquardsen aus den Decken. "Ich habe die ganze Nacht befürchtet, dass mir etwas auf den Kopf fällt. Ich glaube, wer ungeschützt im Freien schläft, kommt nie in die Tiefschlafphase", sagt sie und reibt sich die Augen. Um halb sieben Uhr wagt auch Robert, sich in der frischen Morgenluft aufzusetzen. "Oh Mann, das war krass", sagt er und schüttelt wie ungläubig den Kopf, "Wie hält man das bloß länger als eine Nacht durch? Ich habe kaum schlafen können. Wie gut, dass ich gleich nach Hause kann."


Katrin Wienefeld arbeitet als freie Journalistin in Hamburg.