Integration digital: Sozialarbeit im Social Web
Können soziale Online-Netzwerke helfen, Jugendliche aus sozialen Randgruppen besser zu integrieren? Dieser Frage ging das EU-Forschungsprojekt INCLUSO nach, dessen Ergebnisse vergangene Woche bei einer Konferenz in Belgien zusammengetragen wurden. Marion Horvath, Sozialarbeiterin in einem Wiener Jugendzentrum, war an den Studien beteiligt und erzählt im evangelisch.de-Interview von ihren Erfahrungen.
22.09.2010
Die Fragen stellte Ulrich Pontes

Frau Horvath, worum genau geht es bei INCLUSO?

Marion Horvath: Die Hauptthese war, dass sich die Lage von "Youth at Risk", also von Jugendlichen aus problematischen sozialen Kontexten, durch Social Software verbessern lässt. Das sollte überprüft werden. Dazu gab es Pilotprojekte in Belgien, Polen, Schottland und hier in Österreich, wo die TU Wien sich um die wissenschaftliche Seite gekümmert hat. Wir, das heißt der Verein Wiener Jugendzentren, haben den praktischen Teil mit den Jugendlichen übernommen.

Jetzt ist das Projekt abgeschlossen?

Horvath: Die Ergebnisse wurden vergangene Woche bei einer Konferenz Leuven, Belgien, präsentiert. Sie sind in das "INCLUSO Manual" eingeflossen, das hilft, wenn man so ein Projekt starten will. Wen muss man einbeziehen, welche Plattform sollte man verwenden, worauf ist im Team zu achten - alle diese Fragen werden dort behandelt. Dieses Handbuch gibt es in Langfassung und als "Quickstart Guide", online unter www.incluso.org/manual. Dort gibt es auch das "Incluso Game": Kärtchen zum Ausdrucken, mit deren Hilfe eine Organisation ein Social-Software-Projekt auf spielerische Weise planen kann. Der Quickstart Guide wird auch noch ins Deutsche übersetzt.

Das lässt darauf schließen, dass sich die Ausgangsthese bestätigt hat?

Horvath: Ja. Durch Social Software erreicht man viel mehr Jugendliche als nur durch eine Einrichtung vor Ort. Beispielsweise sind Jugendzentren oft stigmatisiert, weil eine bestimmte Gruppe von Jugendlichen die Einrichtung dominiert. Durch Social Software erreicht man aber auch andere Gruppen. Dann gibt es auch immer wieder Jugendliche, für die es schwierig ist, zu uns zu kommen. Manchmal wegen der Schule, manchmal - bei den Migranten, mit denen wir vor allem zu tun haben - dürfen Mädchen in der Freizeit nicht raus. Da macht es Social Software, vor allem durch die Chat-Funktion, viel einfacher, in Kontakt zu bleiben und bei manchen Dingen zu helfen.

Wie lief das Projekt ab?

Horvath: In Wien war das Projekt zahlenmäßig klein: Aus drei Jugendzentren in drei verschiedenen Stadtteilen haben wir insgesamt 15 Jugendliche ausgesucht, 14 bis 19 Jahre alt und mit unterschiedlichem Hintergrund - aber alle aus ärmeren Verhältnissen, maximal mit Hauptschulabschluss, eben "Youth at Risk". Sie waren über ein Dreivierteljahr ziemlich intensiv eingebunden, mussten immer wieder ins Jugendzentrum kommen oder virtuell Kontakt halten, dafür haben sie auch ein Netbook mit Internetzugang gestellt bekommen.

Online-Fragebogen

Und dann?

Horvath: Die Jugendlichen haben Aufgaben von uns bekommen: Sie mussten am Anfang und am Ende des Projekts einen Online-Fragebogen ausfüllen, außerdem beispielsweise eine Powerpoint-Präsentation über sich selbst oder eine Collage aus bereitgestellten Fotos erstellen. Dabei hat sich gezeigt, dass sie ihre Computerkenntnisse überschätzen. Vorher hieß es immer, ob Bildbearbeitung oder Powerpoint: Kein Problem, das können wir - dann hat man gemerkt, dass sie sich eben doch mit vielem fast nicht auskennen und dass viel Unterstützung nötig ist.

Welche sozialen Netzwerke haben Sie genutzt?

Horvath: Da muss man flexibel bleiben: Vor zwei Jahren waren unsere Jugendlichen alle nur bei Netlog, das haben wir auch genutzt und über MSN gechattet. Mittlerweile sind die meisten auf Facebook, in zwei Jahren wird wieder etwas anderes kommen. Wir müssen uns anpassen. Eine normale Homepage nützt wenig: Man kann noch so oft darauf hinweisen, dass es dort Infos oder Fotos gibt, die Jugendlichen gehen da nicht hin. Sie wollen alles auf der jeweils angesagten Plattform haben.

Inwiefern haben die Jugendlichen durch das Projekt profitiert?

Horvath: Natürlich waren die Netbooks eine super Sache für sie. Außerdem sind sie mit Open Source Software in Berührung gekommen. Wir haben mit Open Office und Gimp gearbeitet - solche legal downloadbaren Programme haben sie vorher überhaupt nicht gekannt. Und wir haben eBooks verwendet, zum Beispiel über Bildbearbeitung, was eine wichtige Sache für die Jugendlichen ist. Natürlich war auch ein Thema, im Netz vorsichtig mit persönlichen Informationen und Fotos umzugehen.

Manchen fällt es vermutlich auch leichter, online Kontakt aufzunehmen als vorbeizukommen?

Horvath: Ja, für Schüchterne ist es ein sehr wichtiges Medium. Ein Mädchen kommt eigentlich gar nicht zu uns, sie sitzt weitgehend isoliert zu Hause, weil sie so schüchtern ist - aber sie hat viel Kontakt über Chat. Und auch andere nehmen erst über Chat Kontakt auf, da ist die Hemmschwelle niedriger. Dann fällt es leichter zu reden, wenn sie zu uns kommen.

Hoher Zeitaufwand

Das alles klingt nach viel Zeitaufwand für die Betreuer.

Horvath: Wir haben immer gemerkt: Je mehr wir gemacht haben, um unsere Seiten up to date zu halten, desto mehr kommen die Leute. Ganz wichtig ist es auch, eingehende Nachrichten möglichst täglich zu beantworten. Die Jugendlichen wollen nicht warten und verlieren sonst schnell das Interesse. Also muss man schon pro Tag mindestens eine Stunde aufwenden. Dafür zählen wir aber auch nicht mehr nur die realen Besucher vor Ort im Jugendzentrum - unser Verein ist dazu übergegangen, e-Kontakte und Chat-Nachrichten in die reguläre Statistik aufzunehmen.

Bei dem Projekt wurden den Jugendlichen die Netbooks gestellt, haben Sie erzählt. Kann ein Angebot für benachteiligte Jugendliche auch ohne das funktionieren?

Horvath: Bei uns waren die Netbooks eher ein Anreiz, über den für die Jugendlichen doch recht langen Zeitraum mitzumachen. In Österreich ist der Zugang zum Internet allgemein kein so großes Problem, es gibt günstige Internetcafés. Allerdings ist es normalerweise so, dass sich die ganze Familie einen Computer teilt. Dazu kommt: Früher gab es Fernsehverbot, wenn einer in der Schule schlecht war oder sonst etwas angestellt hat - heute gibt es Internetverbot. Das kam in unserer Gruppe immer wieder vor. Hilfreich waren die Netbooks also schon.

Lokal begrenzt

Wie viel ist auf der virtuellen Plattform möglich? Kann sie das Treffen von Angesicht zu Angesicht ersetzen?

Horvath: Nein, nur online wäre zuwenig! Es ist total wichtig, dass es auch persönlichen Kontakt gibt. Die Online-Kommunikation funktioniert bis zu einem gewissen Punkt, aber wenn es dann tiefgründiger wird, dann wollen die Jugendlichen auch vorbeikommen. Und wenn es um praktische Hilfen geht, etwa beim Bewerbung schreiben oder bei der Bildbearbeitung, wird es per Chat schwierig. Wir akzeptieren auf unseren Plattformen deshalb auch nur Jugendliche aus Wien.

Aber entsteht durch die Social Software dann wirklich etwas Neues, oder ist sie einfach ein zusätzlicher, unkomplizierter Kommunikationskanal?

Horvath: Wir kommen in Kontakt zu Jugendlichen, die sonst nie zu uns gekommen wären, weil sie nicht unsere typische Klientel sind oder ein bisschen weiter weg wohnen. Ein Beispiel: Wir haben im Sommer zu, aber diesen Sommer hat eine Kollegin die Social-Software-Seiten weiterbetrieben. Da hat sich eine Breakdance-Gruppe gemeldet. Das sind alles Österreicher und ganz andere Jugendliche, als sonst zu uns kommen. Denen konnten wir einen Übungsraum zur Verfügung stellen. Daraus ergeben sich dann wiederum Begegnungen: Die Jugendlichen bleiben nicht mehr unter sich, sondern lernen Leute aus anderen Schichten und anderen Kulturen kennen. Bei uns klappt das bisher konfliktfrei - eine sehr feine Sache!


 

Ulrich Pontes (www.ulrich-pontes.de) arbeitet als freier Journalist und interessiert sich besonders dafür, wie sich Wissenschaft und neue technische Anwendungen auf Leben und Gesellschaft auswirken.