Antonia ist in der Wohnung von Renata zu Dohna allgegenwärtig. Ihre Bilder hängen im Flur und über der Kommode im Wohnzimmer. Sie sieht aus, wie ein schlafendes Baby, doch Renata zu Dohna hatte ihre Tochter nach sechs Monaten Schwangerschaft verloren, sie wurde tot geboren. Sieben Jahre ist das jetzt her.
Eltern hüten die Schätze
Margret Mehner leitet in Dresden den Verein Kaleb und eine Selbsthilfegruppe für Eltern nach einer Fehlgeburt. Oft hat sie erlebt, dass die Eltern das Bisschen, was sie von ihren Kindern geblieben ist, hüten wie Schätze. "Alle Eltern haben einen Platz in der Wohnung, in dem sie solche Dinge, ein Bild, eine Locke aufbewahren, erklärt sie. "All diese Dinge sind heilig, denn sie erinnern an dieses eine, einzigartige, unvergessliche Kind."
Für Renata zu Dohna war die Zeit der Trauer sehr intensiv. Sie war Mutter geworden und hatte trotzdem ihr Kind verloren. Ein Schicksal, das viele Eltern teilen, 15 Prozent aller Schwangerschaften enden so früh, dass die Kinder nicht überleben. Nicht immer fühlen sich die Eltern von ihrem Umfeld, den Ärzten, Hebammen, der Familie und Freunden verstanden und gut behandelt. Das hat Folgen für die Eltern. Laut einer Studie von Professor Anette Kersting, Ärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, entwickeln 20 Prozent aller Mütter nach einer Fehlgeburt ernstzunehmende Krankheiten wie Depressionen oder Angststörungen.
Deshalb hat Anette Kersting gemeinsam mit der Uniklinik Münster eine Therapie entwickelt, die ausschließlich im Internet stattfindet. Inzwischen wird die Therapie von der Uniklinik Leipzig betreut. Der Ansatz, verwaisten Eltern über eine Internettherapie zu helfen, ist gänzlich neu, bis jetzt hatten die Eltern nur die Wahl zwischen einer Psychotherapie, einer Selbsthilfegruppe oder gar keiner Hilfe.
Rückmeldungen von Psychotheraputen
Die Eltern schreiben dabei innerhalb von fünf Wochen ihre Erlebnisse auf, setzen sich so mit ihren Erfahrungen auseinander, und erhalten dabei Rückmeldungen von ausgebildeten Psychotherapeuten. "Natürlich wühlt das Schreiben die Gefühle wieder auf, doch nur so kann die Verarbeitung des Todes vom Kind überhaupt einsetzen", erklärt Anette Kersting. Vielen Außenstehenden fällt es schwer zu verstehen, dass Eltern auch um ein Kind trauern, das nicht geboren wurde. Sie verstehen nicht, dass für die Eltern das Kind genauso gelebt hat wie ein geborenes Baby. "Es beginnt schon damit, dass sie die Betroffenen nicht als Eltern sehen, doch genau das sind sie, auch wenn sie Eltern eines toten Kindes sind", erklärt Margret Mehner.
Doch inzwischen setzt ein Umdenken ein, vor allem in den Krankhäusern. Noch in den 70er und 80er Jahren hielten es Ärzte für das Beste, den Müttern ihre toten Kinder weder zu zeigen noch mit ihnen über diesen Verlust zu sprechen. Auch Margret Mehner hat vor 35 Jahren ihre beiden Kinder verloren; gesehen oder gestreichelt hat sie sie nie.
Heute hat sich vieles geändert. "Es war schön, dass die Mitarbeiter im Krankenhaus Antonia behandelt haben, wie ein Kind das lebt", sagt Renata zu Dohna. "Sie haben sie in eine Decke gewickelt und mir in den Arm gegeben." Genau das fordert auch Magret Mehner: "Die Hebammen müssen die Eltern führen, denn die wissen in dem Augenblick nicht, was um sie herum passiert. Sie sind wie gelähmt." Auch das Angebot der Internettherapie zeigt, dass die Trauer der Eltern inzwischen ernst genommen wird.
Angebot einfach und jederzeit nutzbar
Anette Kersting hat sich das Internet ganz bewusst als Medium für die Therapie ausgesucht. So können Eltern aus ganz Deutschland dieses Angebot nutzen, sie sind dabei an keine Zeit gebunden, können die Therapie so in ihren eigenen Tagesablauf einbauen, wie sie es wollen. Mitmachen kann jeder, Männer und Frauen. Es ist dabei unerheblich, wie lange der Verlust des Kindes zurückliegt. Studien der Uniklinik Leipzig haben gezeigt, dass es vielen Eltern nach der Internettherapie deutlich besser geht. Trotzdem kann diese Therapie, auch wenn sie etwas Tröstendes hat, nicht den Trost der Mitmenschen ersetzen, meint Anette Kersting.
Margret Mehner wird den Eltern in ihrer Selbsthilfegruppe das Projekt Internettherapie empfehlen. Sie setzt sich generell dafür ein, dass Betroffene sich auch an Psychotherapeuten wenden, wenn Gespräche in der Selbsthilfegruppe nicht ausreichen. Doch wichtiger ist ihr, dass die Gesellschaft, die Mitmenschen der Eltern anfangen, sich ernsthaft für die Eltern und das tote Kind zu interessieren. "Die Fehlgeburt muss in der Gesellschaft einen wichtigen Stellenwert bekommen. Denn wenn die Gesellschaft diesen Verlust mit trägt, tut das den Eltern gut."
Ulrike Schnabel ist freie Journalistin in Leipzig.