Un-ge-recht ist eine der ersten Vokabeln, die moderne Kinder lernen. Ungerecht, dass bei den Simpsons noch fünf Minuten vor Schluss ein Werbebreak kommt. Ungerecht, dass man Janis dreimal eingeladen hat – und jetzt steht man wieder nicht auf der Partyliste. Das Leben ist ungerecht, auch für die Großen. Jede Woche neu ...
Migranten müssen Lehrermangel ausgleichen
Samstagabend, eine Freundin feiert ihren Geburtstag in einer abgefahrenen Location, einem Oma-Café in Köln-Ehrenfeld mit LED-beleuchtetem Keller. 60 Leute sind gekommen, darunter ihr neuer Freund. Er ist in Marokko geboren, lebt seit seinem zweiten Lebensjahr im Ruhrgebiet. Er arbeitet als Lehrer für Deutsch und Geschichte, er ist ein cooler Typ mit trainierten Oberarmen und gegeltem Haar. Die beiden haben sich dieses Frühjahr im Kölner Karneval kennen gelernt.
Nein, wir wollen echt nicht über Sarrazin mit ihm reden. Aber, herrgott, es ist laut in dem Schuppen, der DJ dreht ab 21 Uhr die Partymucke richtig auf. "Alors on dance", von Stromae, aber es tanzt noch keiner. Also versucht man es weiter mit Small Talk. "Deutsch und Geschichte ist ja blöd", sag ich, "an unserer Schule suchen sie dringend Mathe- und Physiklehrer." Tja, sagt er, da werdet ihr wohl auf uns Migranten zurück greifen müssen, wenn ihr zu wenig Lehrer habt.
Und erzählt, was sie alles machen an seiner Schule, damit die Jungs und Mädels mit Migrationshintergrund das Abi schaffen. Wie viele Initiativen es gibt, was alles los ist im Stadtteil, und überhaupt, wieso reden alle über Sarrazin und keiner über diese Vereine? Erzählt, wie er zweimal bei einem Parteiabend der SPD war, aber keiner hat sich für ihn interessiert, keiner hat ihn gefragt, wie er heißt, er kam sich vor, als würde er die trauten Kreise stören. Und jetzt regen sich bei der SPD alle über Sarrazin auf.
Rüffel auch für Journalisten
Sarrazin, da ist er wieder, auch am Samstagabend in Köln-Ehrenfeld. Ja, das ist ungerecht, denke ich, während die Musik immer lauter wird. Wieso schreiben wir Journalisten alle über die kaputten Migranten, die Bildungsverlierer, und viel zu selten über die ganz normal integrierten, die Kollegen, die Nachbarn, die Fußballkameraden der Kinder, die doch im Großen und Ganzen hier angekommen sind.
Aber erst als ich zuhause bin, merke ich, w a s richtig ungerecht ist: Dass wir mit diesem jungen Mann über nichts anderes geredet haben als über seinen Migrationshintergrund. Wie blöd muss das sein – ich will als Journalistin von einem evangelischen Magazin ja auch nicht ständig über mein Frausein reden. Oder über Margot Käßmann. Es muss mies sein, in diesen Tagen als Immi – so nennt der Kölner liebevoll jeden Zugezogenen – als Immi auf eine Party zu gehen.
Wie schrieb doch neulich in der "Zeit" meine Kollegin Hilal Sezgin, mit der ich ab und zu Podien bestreite zu Themen wie "Zwischen Minirock und Kopftuch": Sie habe Adorno und Habermas studiert, aber das hätte sie sich sparen können, weil sie eh alle nur nach Koran und Kopftuch fragen.
Ungerecht. Und ich schwör mir: Treffe ich ihn noch mal, den jungen Deutsch-Marokkaner, frag ich ihn, in welchem Fitness-Studio er trainiert. Wo es hier im Partykeller wirklich gut gekühltes Kölsch gibt. Und als was er zum nächsten Karneval geht. Vielleicht als Sarrazin?
Über die Autorin:
Ursula Ott, 45, ist stellvertretende Chefredakteurin von chrismon, Chefredakteurin von evangelisch.de, Mutter von zwei Kindern und pendelt täglich zwischen Köln und Frankfurt. www.ursulaott.de.
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