Mohammed oder Die Fußspuren einer Biografie
Der Islam ist zurzeit in aller Munde. Irritierend, dass über den Gründer dieser Weltreligion, Mohammed (570-632), nur wenig bekannt ist. Immer mehr Wissenschaftler bezweifeln, dass der Prophet überhaupt gelebt hat. Was bedeutet das für den muslimischen Glauben und den christlich-islamischen Dialog? Eine Tagung in der Evangelischen Akademie Bad Boll machte sich auf die Suche nach Antworten.
14.09.2010
Von Bernd Buchner

Geht man in diesen Tagen auf die Straße und fragt die Menschen nach dem Islam, erhält man nur selten freundliche Antworten. Muslime gelten als fremd, potenziell gefährlich und neuerdings auch als genetisch vorbelastet. Das Kopftuch wird als Zeichen der Abgrenzung verstanden, türkische Jungs sind als Machos mit Igelfrisur verschrien, und ein radebrechender Gemüsehändler ist für viele schon der Beweis, dass Migranten kein Deutsch können und sich nicht integrieren wollen.

So ausgeprägt die Vorurteile sind, die im Übrigen vererbbar sind und das ganz ohne Gene, so dünn ist das Wissen über die Weltreligion Islam. Auch in den Kirchen herrscht weitgehende Ahnungslosigkeit. Der Glaube der Muslime gehört bis heute nicht zur Ausbildung von Priestern und Pfarrern, die Studienpläne sind verkrustet. "Empörend" findet das der Erlanger Islamwissenschaftler Hartmut Bobzin, Hauptreferent bei der Tagung "'... und Mohammed ist sein Gesandter' - Leben und Werk des islamischen Propheten in neuer Sicht" Anfang September an der renommierten Evangelischen Akademie Bad Boll bei Göppingen.

Der Koran als "dunkles Buch"

Wer also war Mohammed – der Name bedeutet "Der Gepriesene" - und wie konnte er seine Wirkung entfalten? Der Koran, ein "dunkles Buch", so Bobzin, abgefasst zudem in einer erst im Entstehen befindlichen arabischen Sprache, gibt nur an wenigen Stellen Auskunft. Mohammed tritt als Warner und Bußprediger auf, wird als Gesandter bezeichnet, als "Siegel der Propheten", also als abschließendes Sprachrohr Gottes. Jesus selbst habe, so deuten zumindest die Muslime Passagen des Johannesevangeliums, ihn angekündigt.

Griffige Lebensdaten Mohammeds sind aus dem Koran, der ihm vom Erzengel Gabriel diktiert worden sein soll, nicht ableitbar. Aufschluss geben erst die sogenannten Hadithe, gesammelte Aussprüche des Propheten oder Anekdoten über ihn, sowie die ersten Biografien, die erst Generationen nach seinem Ableben geschrieben werden. Demnach wurde Mohammed 570 in Mekka geboren, empfängt 610 die ersten Offenbarungen. 622 folgt der Auszug nach Medina – mit der sogenannten "hidschra" beginnt die islamische Zeitrechnung. Nach der friedlichen Rückeroberung Mekkas und der Umwandlung der Kaaba (Foto: dpa), die der Legende nach von Abraham und Ismael gebaut wurde, in ein muslimisches Heiligtum stirbt der Prophet im Jahr 632.

Darf ein Prophet auch Politiker sein?

Bewusst betrachteten die ersten Muslime ihren Gründer nicht als Zauberer oder altarabischen Orakelpriester, sondern reihten ihn genealogisch im jüdisch-christlichen Prophetentum ein, grundlegend dafür ist die Koransure 33. Doch der Widerspruch der Juden in Medina, die Mohammed anfangs noch zur "umma" (Gemeinde) zählte, ließ nicht lange auf sich warten: Ein Prophet halte sich von der politischen Macht fern - und folge vor allem nicht seinen fleischlichen Gelüsten. Mohammed hatte zahllose Frauen, seine Lieblingsfrau Aisha war angeblich erst neun Jahre alt.

Nach dem Tod des Propheten und seiner legendarischen Himmelfahrt folgte auf Erden die Herrschaft der vier als "rechtgeleitet" bezeichneten Kalifen, danach übernahmen die Stämme der Omaijaden (661-750) und Abbassiden (750-1258) die Macht im sich rasch ausbreitenden Islam. Berühmtester Kalif war Harun ar-Raschid (786-809), der diplomatische Beziehungen zu Karl dem Großen unterhielt. Eine "erkennbare, fertige Religion" ist der muslimische Glaube erst im 9. Jahrhundert, so Hartmut Bobzin.

Legenden werden für bare Münze genommen

Forscher wie der niederländische Islamexperte Hans Jansen verweisen darauf, dass die Legenden über Mohammed erst mehr als ein Jahrhundert nach seinem Tod aufgezeichnet wurden – und dennoch, mit Ausnahme der Wundergeschichten, für historisch gesichert erachtet werden. Auch der Münsteraner Religionspädagoge Muhammad Sven Kalisch zweifelt inzwischen offen die Existenz des Propheten an. "Man muss das als Historiker einer kritischen Sicht unterziehen", sagt auch Bobzin, der gleichwohl vor einem radikalen Skeptizismus warnt: "Die Debatte ist nicht zielführend."

Mancher Muslim mag sich damit trösten dass Mohammed nicht die einzige Persönlichkeit der Weltgeschichte ist, dessen Existenz bezweifelt wird – der Prophet befindet sich in Gesellschaft mit Berühmtheiten wie Homer, Benedikt von Nursia oder William Shakespeare. Fast brisanter könnte auf lange Sicht die Frage nach der christlichen Prägung des Islam und seines heiligen Buches sein. Der Philologe Christoph Luxenberg etwa geht von einer Urschrift des Koran in Aramäisch aus, also der Muttersprache Jesu. Demzufolge beschreibt etwa Sure 97 ("Die Bestimmung") nicht die Herabsendung des Koran, sondern die Geburt zu Bethlehem. Und die viel zitierten Paradiesjungfrauen, die angeblich auf Selbstmordattentäter warten, verwandeln sich in "weiße Weintrauben".

"Christliche Grundierung des Islam deutlich"

Bobzin hält zwar die sprachwissenschaftlichen Vorstöße in vielen Fällen für irrig, so bei der berühmten "Gepriesen"-Inschrift im Jerusalemer Felsendom, er räumt aber ein: "Die christliche Grundierung des Islam ist evident." Nicht nur, dass die einzige Frau, die im Koran namentlich erwähnt wird, Maria ist: Der Islam könnte eine Weiterentwicklung des christlichen Nestorianismus sein, der die menschliche Natur Jesu betonte. Auch das muslimische Bilderverbot, dessen Wirkungen bis zu den Mohammed-Karikaturen reichen, dürfte vom benachbarten Byzanz geprägt worden sein.

Ohnehin waren Christentum und Islam in den ersten muslimischen Jahrhunderten viel enger verschränkt als bisher angenommen. In Ägypten blieb die Mehrheit der Bevölkerung bis ins hohe Mittelalter hinein christlich. Wie Bobzin bei der Tagung in Bad Boll betonte, begünstigten die Anhänger Jesu sowie die Juden an vielen Orten die Ausbreitung der Muslime, für deren religiös legitimierten Kampf irdischer Lohn in Form von Beute und darüber hinaus himmlische Freuden winkten. "Es war günstiger, unter den Arabern zu leben", so der Islamwissenschaftler.

Glauben, ohne nach dem Wie zu fragen

Und die Verbreitung des Islam mit Feuer und Schwert, die enge Verquickung von Religion und Politik? "Das hat mit dem alten Islam nichts zu tun", erläutert Bobzin. Erst die Fundamentalisten des 19. und 20. Jahrhunderts hätten einen solchen Zusammenhang erfunden. So widerspreche ein Satz wie "Der Islam ist Staat und Religion" den historischen Gegebenheiten. Ohnehin, so der Forscher, sei der Islamismus eine Laienbewegung, die nur wenige Berührungspunkte mit der Korangelehrsamkeit zwischen Marokko und Indonesien habe.

Von einem historisch-kritischen Blick, der das christliche Glaubensverständnis prägt, ist jene Gelehrsamkeit allerdings noch weit entfernt. Der Koran gilt als unerschaffenes Wort Gottes, das nicht hinterfragt werden soll. "Man muss glauben, ohne nach dem Wie zu fragen", so der Eindruck Bobzins. "Diese Antwort finden Sie immer wieder." Der Ruf nach einer muslimischen Aufklärung, einer Entmythologisierung im Stile von Bultmann oder Barth, ist in den scharfen Islamdebatten der zurückliegenden Jahre wieder deutlich lauter geworden.

Die Rolle der Frau

Im Kern dieser Diskussionen steht meist die Rolle der Frau im Islam. Bei der Bad Boller Tagung beschrieb Gökcen Tamer-Uzun, Lehrbeauftragte für islamische Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, den Propheten Mohammed als Frauenrechtler, gar als ersten Feministen. Das steht naturgemäß im krassen Widerspruch zur Wahrnehmung des Islam im Westen, die von Schleierzwang, Beschneidung und "Ehrenmorden" geprägt ist. Eine Pflicht zum Tragen des Kopftuches lässt sich im Übrigen nicht so ohne Weiteres aus dem Koran herauslesen.

Der christlich-muslimische Dialog, den man lange als "Vergegnung" bezeichnete, steht angesichts der genannten Probleme vor einer großen Herausforderung. Kirchturm und Minarett (Foto: dpa) sind sich nah und fern zugleich. "Da steckt zurzeit eine wahnsinnige Emotion drin, ich denke nur an Sarrazin", sagte in Bad Boll Heinrich Georg Rothe, Islambeauftragter der württembergischen Landeskirche. Auch die Christen seien beim Thema Islam "zerrissen". Doch Rothe verwahrt sich gegen den Vorwurf, blauäugig zu sein, und verweist etwa auf den Koordinierungsrat für den christlich-islamischen Dialog und die von der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) in Baden-Württemberg erarbeitete Handreichung zum Umgang mit Muslimen.

Küng will Anerkennung Mohammeds als Prophet

Keinen Zweifel kann es daran geben, dass der Islam dem Zeugnis des Neuen Testaments widerspricht, da er die Gottessohnschaft Jesu leugnet. Eine christliche Anerkennung Mohammeds als Prophet, wie sie etwa "Weltethos"-Gründer Hans Küng anregt, wäre deshalb ein Irrweg. Doch ein wenig mehr Kenntnis über den muslimischen Glauben und seine Leitfigur kann dem Religionsgespräch nur dienlich sein. Und sich von manchen überhitzten Debatten der Gegenwart abheben. Die Bad Boller Mohammed-Tagung war ein über weite Strecken wohltuendes Beispiel dafür.


Bernd Buchner ist Redakteur bei evangelisch.de und zuständig für die Ressorts Politik und Religion.