TV-Tipp des Tages: "Die Zeit der Kraniche" (ARD)
Zwischen Ökologie und Ökonomie: In der Region Untere Havelniederung soll ein Luxushotel errichtet werden. Die Einheimischen hoffen auf Arbeitsplätze, Umweltschützer Borchardt bangt um die Natur.
14.09.2010
Von Tilmann P. Gangloff

"Die Zeit der Kraniche", 15. September, 20.15 Uhr im Ersten

Selbst wenn sich sonst nichts Gutes über diesen Film sagen ließe: Allein die großartigen Naturaufnahmen sind ein Genuss. Die Region Untere Havelniederung in Sachsen-Anhalt ist das größte zusammenhängende Binnen-Feuchtgebiet des westlichen Mitteleuropas und eines der letztes Vogelparadiese Deutschlands. Der Film „Die Zeit der Kraniche“ nutzt das weidlich aus: Selten hat man derart prachtvolle Naturbilder in einem Fernsehfilm gesehen. Schon allein der anmutige Zug der Kraniche im Licht des Sonnenuntergangs ist ein optisches Erlebnis (Bildgestaltung: Eckhard Jansen). Seit einigen Jahren wird die Havel hier renaturiert. Die männliche Hauptfigur der Geschichte ist maßgeblich daran beteiligt: Umweltschützer Lutz Borchardt (Bernhard Schier) ist eine internationale Koryphäe auf diesem Gebiet. Sehr harmonisch und dramaturgisch überzeugend verknüpft Autorin Silke Zertz Ökologie und Ökonomie: In der Gegend soll ein Luxushotel errichtet werden. Die Einheimischen hoffen auf Arbeitsplätze, Borchardt bangt um die Natur. Welten treffen aufeinander: Der eine spricht vom stabilen Bestand der Schwarzstörche, die anderen nennen ihn einen „Ökofaschisten“ und verweisen auf die stabil negativen Arbeitslosenzahlen.

All das wäre schon probater Filmstoff, doch die im vergangenen Jahr für das Wende-Drama „Wir sind das Volk“ mit diversen Fernsehpreisen ausgezeichnete Autorin Zertz leistet sich den Luxus, diese Ebene als Hintergrund für ein Drama ganz anderer Art zu nutzen. Eigentliche Hauptfigur des Film ist Borchardts zwölfjährige Tochter Lea, die mitten im Naturschutzgebiet ein ausgesetztes Baby entdeckt. Es gelingt Vater und Tochter, den Säugling rechtzeitig ins Krankenhaus zu bringen, doch der Fund löst bei Lea eine Krise aus: Ihre Mutter ist gestorben, als sie selbst noch ein Baby war; sie fühlt sich bis heute schuldig. Dass ihr der Vater später gestehen muss, die Mutter habe sich das Leben genommen, ist dem Verarbeitungsprozess nicht gerade förderlich.

Die Rolle ist eine enorme Herausforderung, denn Darstellerin Stella Kunkat, die unter anderem in „Romy“ die junge Romy Schneider gespielt hat, muss ein großes Spektrum bedienen. Gerade die emotionalen Szenen, an denen Filmkinder gern scheitern, spielt sie mit großer Überzeugung. Plausiblerweise sind ihre Dialoge oftmals nicht kindgerecht, da Lea als Einzelkind viel Zeit mit dem Vater verbringt. Auch das ist eine Prüfung, die sie dank der Führung durch Regisseur Josh Broecker mit Bravour besteht. Gleiches gilt für die Szenen mit namhaften Schauspielerinnen und Schauspielern wie Manfred Zapatka (als ermittelnder Kommissar), Alice Dwyer (als Mutter des Babys) und Floriane Daniel (als Krankenschwester). Optisch außerordentlich gelungen ist in dieser Koproduktion zwischen MDR und ORF auch ein Unwetter, das durch die Havelniederung fegt, das Haus der Borchardts unter Wasser setzt und die Personen der Handlung kräftig durcheinanderschüttelt.


Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" und verschiedene Tageszeitungen mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).