In Stuttgart und anderswo: Was bringen die Proteste?
Massendemos, Menschenketten, Internet-Petitionen: Offenbar engagieren sich derzeit überdurchschnittlich viele Menschen politisch. Doch was kann Bürgerprotest wirklich bewirken?
10.09.2010
Von Thomas Östreicher

Wie auch immer man zu Stuttgart 21 stehen mag - über eines sind sich alle Beobachter einig: Das Ausmaß des Protests gegen das milliardenschwere Bahnprojekt übertrifft alle Erwartungen. Woran das liegt? Am offensichtlichen Unsinn des Vorhabens, der immer mehr Menschen in der Region klar wird, sagen die einen. An der perfekten Organisation des Widerstands, sagen die anderen.

"Sie agitieren via SMS, Smartphone, Facebook, Twitter, YouTube", staunte die "taz" kürzlich über das politische Wunder von Stuttgart. Dafür sei in der Technikmetropole "genügend Fachpersonal vorhanden". Matthias von Herrmann, einer der führenden Projektgegner, hat in seinem Internet-Berufsprofil "Öffentlichkeitsarbeit, technische Dokumentation, Recherche und Arbeitssicherheit" als Schwerpunkte genannt. Der langjährige Greenpeace-Aktivist brüstet sich damit, wenn es sein muss auch nachts um ein Uhr tausend Menschen aktivieren zu können. Der Anzugträger mit der Metallbrille ist so etwas wie der Prototyp des Protestierers im digitalen Zeitalter: hoch qualifiziert, engagiert, vernetzt und eher bürgerlich.

So erstaunlich die Breite der Protestbewegung ist - vom Himmel fiel sie nicht. Was mit Flugblättern, Plakaten und einigen Internetseiten wie parkschuetzer.de und kopfbahnhof-21.de begann, wuchs sich durch gezielte Aktionen, die sich bewusst an die bürgerliche Mitte im Schwabenland richten, zur Massenbewegung aus. Dass der zum Teilabriss freigegebene Hauptbahnhof mitten in der Stadt liegt, hilft den Gegnern: In Stuttgart ist es unmöglich, dem Thema auszuweichen. Derweil zeigt die Webcam fluegel.tv weltweit abrufbar permanent den Stand der Dinge und die aktuellen Aktionen.

Mobilisierung "von unten"

Seit Jahrzehnten erfahren im Mobilisieren der eigenen Basis ist Amnesty International. "Unterstützen auch Sie unsere weltweiten oder regionalen Aktionen", wirbt die Organisation wirbt auf ihrer Webseite ganz klassisch um ehrenamtliche Mitarbeiter. "Mit Ihrer Petitionsunterschrift, einem Brief oder einer E-Mail tragen Sie dazu bei, dass sich die Situation von Menschen verbessert, die akut von Menschenrechtsverletzungen betroffen sind." Während früher Amnesty-Aktivisten vornehmlich Postbriefe an Diktatoren sandten, geschieht das heute meist per Internet.

Geblieben ist die Feststellung: "Die friedliche und überaus erfolgreiche Waffe von Amnesty International ist öffentlicher Druck: Denn nichts fürchten Verletzer von Menschenrechten mehr, als dass ihre Taten an die Öffentlichkeit kommen", heißt es dort. "Mit Kampagnen, Aktionen, Infoständen, Protestschreiben, Diskussionsforen, Lobby- und Medienarbeit tragen wir Informationen weltweit auf die Straße, in die Medien und in die Politik."

Es ist das klassische Instrumentarium, dessen sich Amnesty gegen Folter und drohende Todesstrafen für politische Gefangene bedient: Briefe, Faxe, E-Mails. Immerhin habe etwa jede dritte der "Urgent Actions" des Netzwerks aus 2,2 Millionen Mitstreitern Erfolg, berichtet die deutsche Zentrale stolz.

Protest erreicht selten sein Hauptziel

Dieter Rucht vom Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung, Jahrgang 1946, beobachtet Protestbewegungen seit Langem. Für Protestaktionen sei eine solche Erfolgsbilanz generell eher untypisch, sagt der Soziologe und Politikwissenschaftler. Die seit Jahrzehnten stattfindenden Amnesty-Aktionen unterstützten die Gefangenen emotional und zeigten durchaus Wirkung auf die Regierungen kleinerer wie größerer Länder.

"Zunächst mal passiert nichts, aber dann gibt es noch einen zweiten und einen dritten Fall, dann wird das Thema mal bei einem Staatsbesuch angesprochen, und mit Zeitverzögerung - nach dem Motto: steter Tropfen höhlt den Stein - werden eben doch über indirekte Kanäle Wirkungen erzielt, die man gar nicht so direkt diesem Eingangsimpuls zuschreiben kann", beobachtet Rucht.

Neue Kommunikationswege wie E-Mails, SMS und Twitter erleichterten Regimekritikern in undemokratischen Gesellschaften wie Iran und China die Arbeit - allesamt "geniale Mittel, um zunächst einmal Informationen zu streuen, die irgendjemand weitergibt, und am Schluss kann man im Einzelfall weltweite Aufmerksamkeit finden. Das wäre mit einem handgeschriebenen Flugblatt sehr viel schwieriger." Dennoch schränkt Rucht ein: "In der Regel scheitert Protest" - gemessen am Hauptziel.

Das Internet alleine reicht nicht

An dieser Feststellung änderten auch die neuen Protestformen nichts. "Ich glaube nicht, dass sich dadurch die Menge und die Größenordnung von Protesten wirklich verändert hat", sagt Professor Rucht. Auf Transparenten steht inzwischen häufig die Internetadresse der Aktivisten - so wirbt ein altes Protestmedium für ein neues statt wie erwartet andersherum.

Doch es gebe beide Richtungen. Professionelle Gruppen wie Campact - Demokratie in Aktion, die sich auf ihrer Webseite 261.922 Aktiver rühmt, haben sich auf Unterschriftensammlungen im Internet spezialisiert. Wen Internet-Unterschriftenlisten beeindrucken, ist dabei fraglich. "Das alleine trägt nicht", bestätigt Rucht. "Es bleibt ein bisschen steril und beeindruckt auch das große Publikum nicht, denn eine Unterschrift per Mausklick ist billig zu haben. Man gewöhnt sich einfach daran, dass für alles und jedes Unterschriften eingesammelt werden. Und wenn man unter der Zahl des vorigen Aufrufs bleibt, wird das schon als Misserfolg verbucht."

Im weltweiten Netz könne zwar selbst ein kleiner Verein potenziell Milliarden Menschen erreichen, "aber faktisch klickt die Welt das nicht an". Die Informationen gehen in der Flut des Angebots schlicht unter. Selbst Campact gehe inzwischen verstärkt dazu über, den digitalen Protest mit realen Aktionen wie der Anti-Atomkraft-Demonstration am 18. September vor dem Berliner Reichstag zu kombinieren.

Trend zum Event

Auf die Suche nach neuen, möglichst sowohl für Aktive wie für Berichterstatter gleichermaßen attraktive Protestformen müssen sich inzwischen alle machen, die sich für ihr Anliegen engagieren wollen. So wandte sich vor einer Weile eine große Umweltorganisation an den Protestforscher Dieter Rucht mit der Frage, wie zeitgemäße und damit erfolgreiche Aktionen heute aussehen sollten. Schlauchbootmanöver und einen Kamin zu besteigen wie Greenpeace in den 70er Jahren hat nun einmal viel von seiner Anziehungskraft verloren. Sein Rat: Hierarchien abbauen, lokale und regionale Gruppen stärken, offen sein für Ideen von Neulingen.

Als eine neue Form jenseits von Massenmailings, dem Aufbau von Twitter-Communities und dem Kapern gegnerischer Internetseiten hat sich der Flashmob etabliert. Das kurzfristig geheim verabredete, plötzliche und gleichzeitige Agieren einer möglichst großen Gruppe sorgt für Aufsehen und Gesprächsstoff bei den irritierten Passanten. Es kann sich gegen Fast Food richten, gegen ein Nobelkaufhaus - oder sogar ganz auf eine Botschaft verzichten.

Bei Flashmobs "spielen das Erlebniselement des Protests und der Spaßfaktor eine größere Rolle", sagt Dieter Rucht. Derlei Aktionen würden "Anliegen - so vorhanden - nicht mehr so bierernst, mit Leidensmiene vortragen", das Ganze habe eher "Funcharakter". Aber auch Erfolg? Der ist wohl Definitionssache.

Die Nähe entscheidet ...

Uwe Grund kennt als SPD-Bürgerschaftsmitglied in Hamburg und Landesvorsitzender des DGB beide Seiten des Protests: Früher gehörte er der nicht selten mit Widerstand konfrontierten Regierungsfraktion der Hansestadt an. Andererseits gehört für einen Gewerkschafter die Organisation von Protest quasi zur Arbeitsplatzbeschreibung. Ist es nicht merkwürdig, mal auf der einen, mal auf der anderen Seite zu agieren? "Warum?", fragt der 58-Jährige zurück und widerspricht vehement: "Überhaupt nicht. Ich empfehle auch als Politiker immer: Leute, wenn ihr was bewegen wollt, reichen gute Argumente oft nicht aus. Dazu gehört, dass die eigenen Vorstellungen deutlich gemacht werden und Druck erzeugt wird."

Beeindruckt eine gewöhnliche Demonstration einen Regierungspolitiker eigentlich? "Unbedingt!", sagt Grund. Obwohl er einräumt, dass es eine gewisse Gewöhnung gebe. "Das ist schon eher etwas Alltägliches. Denn heute können Sie keine Entscheidung treffen oder ein Regierungsprogramm aufstellen, ohne dass Sie damit rechnen müssen, die Hälfte der Bevölkerung dagegen zu haben."

Über den tatsächlichen Erfolg von Protesten entscheide beispielsweise der Faktor Nähe. Der lautstarke Aufmarsch einiger Dutzend Atomkraftgegner vor Büros von Abgeordneten habe jedenfalls eine starke Wirkung: "Eine Demo in der Stadt mit 70 Leuten würden die nicht mal zur Kenntnis nehmen. Wenn sie vor der eigenen Haustür stattfindet, kommt das Thema an sie persönlich ran."

... aber ohne Medien geht nichts

Auch Mailings sieht Uwe Grund als "ein wichtiges Instrument, und es wird immer wichtiger. Es führt zu einer unglaublichen Beschleunigung der Aktionen. Inzwischen gibt es auch sehr ausgereifte Verteilerkreise, wenn man seine Zielgruppen erreichen will, darüber hinaus sehr kostengünstig."

Demnächst planen die Hamburger Gewerkschafter, dem neuen Bürgermeister eine Liste von 9000 Beamten zu übergeben, die gegen die teilweise oder völlige Kürzung des Weihnachtsgelds protestieren. Die Wirkung solle man nicht unterschätzen, findet Grund. "Das sind ja seine Bediensteten. Und wenn sie das schriftlich mit Name und Adresse tun, ist das nicht mal eben im Internet klicken, sondern dann hat es mit Bekenntnis zu tun und mit Engagement."

Sicher spiele auch die Zahl der Aktiven eine Rolle - gerade Politiker wissen, wie schwer es ist, Menschen zu mobilisieren. "Es wird immer sorgfältig beobachtet: Hält sich der Widerstand in normalen Grenzen, oder gibt es außergewöhnliche Entwicklungen?" An dauerhaften Massenprotesten komme ein Entscheidungsträger nicht so leicht vorbei. "Aber man muss vor allem medial rüberkommen. Das geht heutzutage gar nicht mehr ohne." Grunds Erfahrung: "Sie können im Internet viel mobilisieren, Sie können Information und Kommunikation organisieren, das geht alles. Aber am Ende müssen Sie die klassischen Medien erreichen."

Überraschung gefällig?

Dauerhafter Protest und persönliches Engagement vor Ort beeindrucke immer noch am meisten, empfiehlt auch Dieter Rucht allen, die etwas bewegen wollen. "Selbst wenn man in der Sache nicht übereinstimmt, erkennt man als Außenstehender an, dass die Leute etwas tun, sich einsetzen, Opfer bringen. Das Ausharren im Regen, die Wiederholung der Proteste von Woche zu Woche oder am Ende gar der Hungerstreik zeigen: Hier ist ein hoher Einsatz, das muss ich zunächst mal anerkennen." Als Beispiel nennt er den Palästinenser Firas Maraghy, der mit einem 41-tägigen Hungerstreik vor der israelischen Botschaft in Berlin dafür demonstrierte, dass seine deutsche Frau und seine Tochter mit ihm in Ostjerusalem leben dürfen, was ihnen die Regierung Israels verweigerte. Noch ist er nicht am Ziel, aber Maraghys Anliegen fand weltweite Beachtung.

An Aufmerksamkeit, Ausdauer und Aktiven vor Ort mangelt es auch den Stuttgart-21-Gegnern nicht. Der Professor schätzt ihre Erfolgschancen vorsichtig ein, hatte er doch ursprünglich ein Erlahmen der Protestbewegung mit Baubeginn prognostiziert. "Alles schien schon gelaufen zu sein."

Der ungebrochene Widerstand der Schwaben erinnert ihn nun allerdings zunehmend an Erfahrungen bei unseren Nachbarn, die 1978 eine ebenfalls unumkehrbar scheinende Politikentscheidung kippten: "In Österreich gab es Anti-Atomkraft-Demonstrationen, die zunächst mal nichts bewirkt haben. Die hauchdünne Mehrheit von 50,47 Prozent bei einer Volksabstimmung gab dann aber den Ausschlag dafür, dass das fertige Atomkraftwerk Zwentendorf nicht in Betrieb ging und es auch heute noch keine Atomkraft in Österreich gibt."

Kein gutes Zeichen für Megaprojekte wie Stuttgart 21. 


Thomas Östreicher ist freier Mitarbeiter bei evangelisch.de.