Wenn junge Leute Küsse in der Öffentlichkeit austauschen, wird das als normal empfunden. Wenn ein 80- oder 90-jähriges Paar Hand in Hand geht, wenn es sich gar in der Öffentlichkeit küsst, sind dagegen schnell herablassende Begriffe wie "rührend" oder "niedlich" bei der Hand. Warum eigentlich? Was ist so außergewöhnlich daran, dass Menschen auch im hohen Alter durchaus noch zeigen, dass sie sich lieben? Liegt es daran, dass sich junge Menschen nicht vorstellen können, dass Liebe bis ins Alter hält?
Ältere Menschen nehmen Trauversprechen sehr ernst
Diese Frage hat Barbara Hedtmann immer wieder beschäftigt in den langen Jahren, in denen die Gemeinde- und Religionspädagogin in einer Kirchengemeinde arbeitete. "Mir ist alles begegnet", sagt sie, "von Eheleuten, die über die Jahrzehnte ein junges Paar geblieben sind, bis hin zu Paaren, bei denen es besser war, sich auch noch im hohen Alter zu trennen". Das Trauversprechen "bis dass der Tod uns scheidet" werde im allgemeinen von alten Menschen sehr ernst genommen, sagt Hedtmann, die die Gemeindepädagogische Arbeitsstelle Erwachsenenbildung/Seniorenarbeit im evangelischen Regionalverband in Frankfurt am Main leitet. Aber für sie stellte sich auch immer die Frage: "Welche Wertvorstellungen sind die Grundlagen solch langer Ehen?"
Denn Tatsache ist: Langjährige Ehen gibt es immer mehr. Auf der anderen Seite kann man davon ausgehen, dass von allen heute geschlossenen Ehen jede dritte innerhalb von 25 Jahren geschieden werden wird. Ein Widerspruch? Nur scheinbar. Dass es immer mehr 40 und mehr Jahre andauernde Ehen gibt, liegt vor allem an der signifikant gestiegenen Lebenserwartung der Menschen. Und wenn ein Drittel aller Ehen geschieden werden, heißt das ja auch, dass immerhin zwei Drittel der Ehen durchaus halten.
Die Universität des Dritten Lebensalters an der Frankfurter Goethe-Universität ist diesem Thema nachgegangen. Zwar existieren etliche Untersuchungen, die nach den Gründen für Scheidungen fragen oder neue Partnerschafts- und Beziehungsformen erforschen. Lang andauernde Ehen dagegen haben die Wissenschaft bisher wenig interessiert. Und so bleibt zunächst die Statistik, will man sich diesem Thema nähern. Danach ist die Ehe zumindest unter älteren Menschen kein Auslaufmodell.
Über lange Jahre zu zweit
So weist das statistische Jahrbuch 2009 aus, dass 80 Prozent der 65- bis 75-jährigen Männer verheiratet sind. Ledige bzw. Geschiedene fallen von den Zahlen her kaum ins Gewicht. Bei Frauen sieht es anders aus, ist bei ihnen doch das Verwitwungsrisiko ungleich höher. Sind bei den 65- bis 70-Jährigen noch über 65 Prozent verheiratet, so sind es bei den über 80-Jährigen nur noch rund 20 Prozent. Der Hauptgrund dafür ist die höhere Lebenserwartung der Frauen, zumal sie oft auch noch jünger als ihre Ehemänner sind.
Dass eine Goldene Hochzeit heute nichts Besonderes mehr ist, dass vielmehr Diamantene und Eiserne Ehejubiläen gefeiert werden können, wirft aber auch die Frage nach der Ausgestaltung dieser gemeinsam erlebten Zeit auf: Längst machen die Jahre der Kindererziehung, also die eigentliche Familienzeit, nicht mehr den größten Teil des Zusammenlebens aus. Vielmehr leben die Paare nun über lange Jahre zu zweit, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Ein "Monogamieanspruch" wie nie zuvor, formuliert es die Soziologin Rosemarie Nave-Herz in einem Vortrag an der Universität des Drittel Lebensalters.
Für dieses lange Zusammenbleiben macht Nave-Herz im wesentlichen zwei Gründe aus und findet dafür die wissenschaftlichen Begriffe Systemkohäsion und Zwangskohäsion. Übersetzen kann man das verkürzt mit Liebe und Gewohnheit. Nach ihren Feststellungen ist es das emotionale Band von Liebe und Harmonie, Geborgenheit und Gemeinsamkeit, auch Stolz auf gemeinsam Erreichtes, das Mann und Frau verbindet. Oder eben: wirtschaftliche Abhängigkeit, Gewohnheit und Angst vor Einsamkeit.
Idealbild: Bürgerliche Ehe
Die Soziologin Ute Gerhard, einst erste Inhaberin eines Lehrstuhls für Geschlechterforschung, hat nach dem vorherrschenden Bild von Ehe in unserer Gesellschaft gefragt. Es ist die konservative Ehe nach einem christlich-abendländischen Verständnis mit strikter Rollenverteilung: Der Mann ernährt die Familie, die Frau führt den Haushalt und erzieht die Kinder. Das war nicht immer so. Noch Ende des 19. Jahrhunderts hätten maximal zehn Prozent der Bevölkerung in Beziehungen gelebt, die diesem Idealbild entsprachen, sagt Gerhard. Dagegen habe nach dem Zweiten Weltkrieg das goldene Zeitalter der bürgerlichen Ehe begonnen. In staatlichen Normen ist sie bis heute verankert: etwa im bürgerlichen Gesetzbuch, im Grundgesetz (Schutz von Ehe und Familie) und im Steuerrecht (Ehegattensplitting).
Auch die Kirche hing diesem bürgerliche Eheverständnis an. Noch 1950, so Gerhard, habe die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) das letzte Entscheidungsrecht des Mannes in der Ehe vehement verteidigt. Und selbst im Jahr 1968 habe sich die EKD-Kammer für Ehe und Familie nicht auf eine einheitliche Denkschrift einigen können. "Zu groß waren die Gegensätze", sagt Gerhard, die damals selbst in dem Gremium mitgearbeitet hat.
Gleichwohl haben die 68er und der daraus folgende tiefgreifende strukturelle und kulturelle Wandel ihre Folgen gehabt. Die sozialen Bewegungen jener Zeit hätten zu einer Demokratisierung der Verhältnisse und auch der Partnerschaften geführt, sagt Gerhard. Sie warnt aber auch: "Alternative Lebensformen schaffen nicht automatisch gerechtere Formen des Zusammenlebens." Das heißt: Auch in der WG oder unter unverheirateten Paaren trägt unter Umständen immer die gleiche Person den Mülleimer runter – und ärgert sich darüber.