Wenn der Weg zum gesunden Kind übers Ausland führt
Viele deutsche Paare kommen nach Belgien, um das zu tun, was in Deutschland in einer rechtlichen Grauzone liegt: eine künstliche Befruchtung mit anschließender Präimplantationsdiagonistik, kurz PID, vornehmen zu lassen.
05.09.2010
Von Tanja Tricarico

Endlich leuchtet die 132 auf. Seit zwei Stunden warten die Neudecks in der Eingangshalle der Brüsseler Universitätsklinik auf ihre Nummer. Jetzt ist das Ehepaar an der Reihe. Barbara Neudeck atmet tief durch, ergreift die Hand ihres Mannes. Brüssel ist für sie die letzte Hoffnung. Die letzte Chance auf ein gesundes Kind.

Ihren echten Namen möchten sie nicht lesen. Schließlich ist das Ehepaar nach Belgien gekommen, um das zu tun, was in Deutschland in einer rechtlichen Grauzone liegt. Die Neudecks haben sich für eine künstliche Befruchtung entschieden, mit anschließender Präimplantationsdiagonistik, kurz PID. Dabei wird der Embryo auf Erbkrankheiten überprüft. Die gesunden Embryos werden in die Gebärmutter eingepflanzt, die kranken zerstört. In Belgien ist dies gängige Praxis, in Deutschland umstritten. Im Juli gab der Bundesgerichtshof einem Arzt recht, der die PID angewendet hatte, obwohl in Deutschland das Embryonenschutzgesetz gilt. In der Bundesregierung wird nun beraten, ob genauere rechtliche Regelungen erforderlich sind.

Die Neudecks sind eine sogenannte Hochrisikogruppe. Translokales Chromosom heißt die Diagnose. Vereinfacht bedeutet das, dass die Träger des Erbguts der Neudecks vertauscht sind und an der falschen Stelle sitzen. Sie selbst können mit der Diagnose gut leben. Doch ob Barbara Neudeck ein gesundes Kind zur Welt bringt, ist ungewiss. "Das Risiko, ein schwerbehindertes Baby zu bekommen, will ich nicht tragen", sagt die 38-Jährige. "Das könnte ich mir nie verzeihen."

Nachfrage ist deutlich gestiegen

Der Weg zum Gencheck führt an einer gelben Linie entlang. Knapp fünf Minuten braucht man bis zur Abteilung für Gendiagnosen am anderen Ende der Klinik. Bunte Bauklötze liegen in einer Ecke. Auf einem Holztisch stapeln sich Broschüren zur künstlichen Befruchtung. Ein knallrotes Bobbycar versperrt den Eingang zum Behandlungszimmer.

Dort sitzt Maryse Bonduelle. Sie telefoniert, bedeutet dem Besucher mit einer energischen Handbewegung, er möge Platz nehmen. Bonduelle leitet die Abteilung. Die Nachfrage nach der PID ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Besonders aus dem Ausland. "Die Menschen, die hierher kommen, sind verzweifelt und wollen Gewissheit", sagt Bonduelle.

Die meisten ausländischen Paare sind aus Deutschland. 2009 waren es 29. An zweiter Stelle sind potenzielle Eltern aus Frankreich. Aber auch Paare aus der Schweiz, aus Italien, Österreich und Norwegen hat Bonduelle behandelt. Sogar Patienten aus Chile, den USA, aus Kuwait und Saudi-Arabien suchen Hilfe bei ihr in Belgien.

Wartezeit bis zu einem Jahr

"Je nach dem, wie selten die Krankheit ist, brauchen wir Zeit, das defekte Gen zu entschlüsseln", sagt Bonduelle. Im Durchschnitt müssen die Patienten bis zu einem Jahr auf einen Termin warten. 2009 betreute sie an die 100 Paare, die Warteliste ist lang.

Die Neudecks haben vor zwei Jahren aus dem Internet von der Klinik in Brüssel erfahren. Ihr Arzt in Deutschland hat die Krankenakte nach Belgien geschickt. Dann folgten Beratungsgespräche am Telefon. "Wir hätten die Untersuchung lieber in Deutschland gemacht. Nur wenige Ärzte verstehen hier Deutsch", sagt Barbara Neudeck. Sie reibt sich mit den Händen übers Gesicht, streicht sich eine blonde Haarsträhne aus der Stirn.

Verwirrend sind die unterschiedlichen Regelungen in Europa. In der Schweiz und in Österreich ist die PID verboten. In Italien darf geforscht werden, die Anwendung erlaubt das Gesetz jedoch nicht. In Frankreich können nur bestimmte Gendefekte untersucht werden. In Belgien, Tschechien, Spanien und Großbritannien gibt es keine Einschränkungen.

Jeder Fall wird genau geprüft

"Wir brauchen ein einheitliches europäisches System", sagt Bonduelle. "Die Behandlung ist belastend, vor allem, wenn eine Reise ins Ausland nötig ist." Ethische Bedenken kann sie nicht verstehen. Bonduelle prüft jeden Fall genau, im Zweifel wird ein Ethikkomitee einberufen. Anfragen, bei denen es nur um das Geschlecht des Kindes geht, lehnt die Ärztin ab. In Brüssel kamen seit 1993 an die 1.000 gesunde Kinder dank PID zur Welt. "Das ist ein enormer Erfolg", sagt Bonduelle.

Die PID erkennt Alzheimer, Mukoviszidose oder Brustkrebs - Krankheiten, für die es keine oder nur geringe Heilungschancen gibt. "Für die Paare ist der Gendefekt eine große Last", sagt Bonduelle. "Aber eine Abtreibung während der Schwangerschaft oder der Tod des Kindes wären noch tragischer."

Die Neudecks müssen bis zu 6.000 Euro für die Behandlung in Brüssel bezahlen. Viel Geld für das Ehepaar. Vor ihnen liegt die erste Behandlung. Wie lange es tatsächlich dauert, bis Barbara Neudeck schwanger ist, ist ungewiss. Doch für sie zählt nur eins, dass der Wunsch nach einem gesunden Kind endlich in Erfüllung geht.

epd