Meine Meinung: "Bild"s Kampf ist unnötig
"Das wird mal wohl noch sagen dürfen", titelt heute die "Bild" und erklärt sich selbst zum Kämpfer für die Meinungsfreiheit. Das ist unnötig: Die Meinungsfreiheit in Deutschland blüht geradezu.
04.09.2010
Von Henrik Schmitz

Was ist eigentlich los in diesem Land? Thilo Sarrazin schreibt ein Buch, das in jedem Laden zu kaufen ist. Er tritt in Talkshows auf und gibt Interviews in großen Zeitungen wie "Die Welt" und die "Zeit". In Internetforen melden sich massenhaft Befürworter von Thilo Sarrazin und seinen Thesen und auch prominente Fürsprecher wie Henryk M. Broder oder Arnulf Baring erhalten Raum, sich zu äußern. Anders ausgedrückt: Sie haben die Freiheit, ihre Meinung zu sagen. Die Meinungsfreiheit in Deutschland blüht geradezu. Trotzdem erklärt sich die "Bild" nun selbst zum Kämpfer für die Meinungsfreiheit, die das Boulevardblatt offenbar ebenso bedroht sieht, wie viele Menschen in diesem Land. Über diese Ignoranz und Dummheit kann man sich nur wundern. Wenn "Bild" kämpfen will, dann besser in Weißrussland, im Iran oder in China.

"Wer nichts gelernt hat, soll hinterher nicht jammern, dass er keinen Job bekommt", "Wer Arbeit ablehnt, verdient keine Stütze", "Zu viele junge Ausländer sind kriminell". Diese und andere Aussagen, die man in Deutschland angeblich nicht sagen dürfe, druckte "Bild" auf Seite 1 und 2 seiner Samstagsausgabe. "Darf man denn nicht mehr seine Meinung sagen?", fragt die Boulevardzeitung dazu ganz unschuldig. Die klare Antwort lautet: "Doch, darf man."

Von wegen Sprechverbot

Aussagen, wie die von "Bild" zitierten, fallen nicht nur an jedem Stammtisch, sie sind auch massenhaft publiziert - nicht nur bei "Bild" selbst, sondern auch bei anderen Zeitungen und im Rundfunk. "Bild" ignoriert das und erblödet sich nicht zu schreiben: "Die Tatsache, dass 600 Journalisten zur ersten Vorstellung von Thilo Sarrazins Buch kamen, dass diese Präsentation live im Fernsehen übertragen wurde, macht klar, dass es Sprechverbote bei uns gibt." Da darf sich also ein Mann live im Fernsehen äußern, 600 Journalisten begleiten den Auftritt und schreiben anschließend über Sarrazins Thesen in ihren Blättern und die "Bild" spricht da von "Sprechverbot"? Es kommt ja häufiger vor, dass "Bild" Stuss schreibt, aber so ein Oberstuss war selten. Nein, liebe "Bild", über ein Sprechverbot kann sich Sarrazin nun wirklich nicht beklagen. Sprechverbot wäre gewesen, wenn die Medien Sarrazins Thesen verschwiegen hätten. Das haben sie wahrlich nicht.

Was "Bild" und andere aber begreifen sollten ist, dass die Meinungsfreiheit auch für die gilt, die eine jeweils andere Meinung haben. Eine Meinung, die vielleicht deshalb anders ist, weil es in Medien und Politik durchaus noch Menschen gibt, denen die Vereinfachung von komplexen Themen und Zusammenhängen im wahrsten Sinne des Wortes "zu einfach" ist. Es ist aber geradezu Pflicht und Aufgabe von Politikern und Medien, dort aufzuklären, wo Aufklärung nötig ist und Widerspruch zu üben, wo Widerspruch nötig ist.

Das Problem mit Sarrazin ist ja nicht, dass er nicht mit vielen seiner Aussagen – das Thema Vererbung von Intelligenz mal nicht mitgezählt – Recht hat. Das Problem ist, dass er eine Stimmung erzeugt, die eher zur Spaltung denn zur Integration beiträgt. Sarrazin, der die Dinge vermutlich wesentlich differenzierter betrachtet als die meisten derer, die ihm nun applaudieren, hätte das wissen müssen. Zudem ist "Wahrheit" mehr als die Summe richtiger Aussagen. Richtig ist zum Beispiel auch, dass Ausländer oft diskriminiert werden, wenn sie sich um einen Ausbildungsplatz bewerben oder sie eine Wohnung anmieten wollen. Richtig ist auch, dass auch in deutschen sozial schwachen Milieus viele Jugendlichen kriminell werden, Menschen in der U-Bahn anpöbeln und ihre Frauen schlecht behandeln. Wer eine These hat, findet immer eine Statistik, mit der er seine These "belegen" kann.

Die Grenzen der Meinungsfreiheit

Gelungene Integration erreicht man nicht allein durch Deutschkurse, Burkaverbote oder härtere Abschiebungsregeln, sondern etwa auch durch mehr Ganztagsschulen, islamischen Religionsunterricht durch deutsche Lehrer und Abbau von Diskriminierung bei der Vergabe von Arbeitsplätzen. Dass sich die Hamburger kürzlich gegen das längere gemeinsame Lernen ausgesprochen haben, war aus Sicht guter Integrationspolitik übrigens denkbar ungünstig. Deutschland muss seine Migranten fordern, es muss sie aber auch fördern. Das Fordern wiederum kommt zu kurz, wenn man wie beispielsweise Renate Künast nur das "Wir wollten Arbeiter und haben Menschen bekommen"-Mantra abnudelt, das übrigens auch eine starke Vereinfachung der komplexen Materie Integration darstellt und dazu dient, an die moralischen Werte derer zu appellieren, die die Grünen wählen.

Noch eines zum Thema Meinungsfreiheit. Gerade in Internetforen wird häufig behauptet, es finde eine Zensur statt, wenn gelegentlich Nutzerkommentare nicht publiziert werden. Dies ist ein Irrtum. Übersehen wird nämlich, dass die in Artikel 5 des Grundgesetzes festgelegte Meinungsfreiheit ihre Grenzen hat, unter anderem im Recht der persönlichen Ehre. Was aber manche Menschen an "Meinung" äußern, geht weit über die Grenzen von Beleidigungen hinaus. Der Internetpionier Jaron Lanier sprach in diesem Zusammenhang zuletzt von der "Meute im Netz". Wer anonym sei, müsse keine Konsequenzen fürchten und erhalte dennoch unmittelbare Genugtuung, sagte Lanier. "Da wird ein biologischer Schalter umgelegt, und es entsteht eine richtige Meute. Das lässt sich auch in anderen Lebensbereichen beobachten. Wann immer sich Menschen mit einem starken gemeinsamen Glaubenssystem zusammenschließen, tritt meistens das Schlechteste zutage." Wenn man dieser Schlechtigkeit kein Forum bietet, hat das mit Sprechverboten oder Zensur herzlich wenig zu tun. Das begreift sogar die "Bild", die auf ihrem Onlineportal auch längst nicht alles freischaltet, was die Nutzer so schreiben. Was das Thema Integration angeht, ist Laniers Aussage aber natürlich auch aus anderer Perspektive durchaus interessant.


Henrik Schmitz ist Redakteur bei evangelisch.de und betreut die Ressorts Medien und Kultur