Ein Jahr nach Kundus: "Es war eine Katastrophe"
Die Menschen in der nordafghanischen Provinz Kundus haben den von der Bundeswehr befohlenen Luftangriff auf zwei Tanklastwagen auch nach einem Jahr nicht vergessen.
03.09.2010
Von Farhad Peikar und Stefan Mentschel

"Jeder hier kann sich an diese Nacht erinnern", sagt der Afghane Mohammad Sarwar. "Es war eine große Katastrophe, und immer wenn ich an das Leid der betroffenen Familien denke, macht mich das sehr traurig."

Das Einsatzgebiet der deutschen Soldaten im Norden Afghanistans gilt lange als relativ sicher. Im Laufe der Jahre 2008 und 2009 beginnt sich jedoch die Lage vor allem in der Region Kundus zu verschärfen. Regelmäßig gibt es Sprengstoffanschläge. Immer öfter sind Bundeswehr-Einheiten in Gefechte mit den radikal-islamischen Taliban verwickelt, die sich in der Region festgesetzt haben. Die Stimmung im Feldlager am Stadtrand von Kundus ist äußerst gespannt.

Anfang September vergangenen Jahres erfährt der Kommandeur von Kundus, Oberst Georg Klein, dass Aufständische zwei voll beladene Tanklastwagen gekapert haben und mit diesen in den Unruhedistrikt Char Darah fahren. Klein befürchtet einen Angriff. In der Nacht zum 4. September fordert er bei den NATO-Partnern Luftunterstützung an und lässt die in einem Fluss feststeckenden Fahrzeuge bombardieren.

Zahl der Toten unklar

Noch immer ist umstritten, wie viele Menschen bei dem Angriff getötet wurden. Die Bundeswehr geht inzwischen von 91 Toten und 11 schwer Verletzten aus. Die Nato war in ihrem ursprünglichen Untersuchungsbericht auf mindestens 142 Tote oder Verletzte gekommen.

Sicherlich hätten sich auch Taliban-Kämpfer bei den Tanklastwagen aufgehalten, sagt Mohammad Sarwar, der in Char Darah lebt. Die meisten Opfer seien jedoch Bewohner umliegender Dörfern gewesen, die sich am Fluss versammelt hatten. Augenzeugen berichten, die einen seien aus purer Neugierde gekommen, die anderen, um Benzin abzuzapfen. Die Bomben trafen alle unvermittelt.

"Wir waren davon ausgegangen, dass die Deutschen bei ihren Militäroperationen mit Vorsicht zu Werke gehen." Nach dem Angriff hätten viele Menschen ihre Meinung geändert. Der Bauer Abdul Hanan ist einer von ihnen. "Ich habe zwei Söhne verloren, die beide noch zur Schule gegangen sind", sagt er. "Tag und Nacht denke ich an sie. Es ist ein unerträglicher Schmerz."

Herzen sind nicht zurückzugewinnen

Auch die Anfang August von der Bundesregierung angekündigte Entschädigung von 5.000 Dollar (3.900 Euro) pro Opfer kann Abdul Hanan nicht über die Trauer hinweghelfen. Im Gegenteil: "5.000 Dollar sind keine Entschädigung, allenfalls eine kleine Hilfe." "Doch selbst wenn die Deutschen 100.000 Dollar bezahlen, können sie die Herzen der betroffenen Familien nicht mehr zurückgewinnen", sagt der Bauer.

In Deutschland hält der Streit um den finanzielle Ausgleich für die Opfer unterdessen an. Der Bremer Anwalt Karim Popal, der nach eigenen Angaben die Familien von 113 Opfern vertritt, forderte erst am Donnerstag jeweils 33.000 US-Dollar (28.000 Euro) und damit weit mehr als bisher zugesagt hat. Unterstützt wird Popal von Politikern der Opposition wie der Linken-Abgeordneten Christine Buchholz, die die Regierung für den "unwürdigen" Umgang mit den Opfern kritisiert.

Mohammad Sarwar glaubt, dass durch die monatelangen Debatten noch mehr Vertrauen verloren gegangen ist. Zudem hätten die Taliban längst Kapital aus dem Luftangriff und dem Streit um Entschädigungen geschlagen. "Sie haben ein Propagandainstrument daraus gemacht und damit viele neue Kämpfer rekrutiert." Für die Bundeswehr in Kundus sind das keine guten Nachrichten.

dpa