Was haben wir Migranten diesem Mann nur getan?
Sie wollen nicht integriert werden, sprechen kein Deutsch, hängen am sozialen Tropf, sind letztlich dumm und faul - und das alles auch noch genetisch bedingt. Von den gängigen Klischees über islamische Einwanderer lässt SPD-Politiker und Bundesbanker Thilo Sarrazin kaum eines weg. Wie wirkt sein Buch "Deutschland schafft sich ab" auf hier lebende Muslime? Eindrücke einer persönlich betroffenen Journalistin.
31.08.2010
Von Canan Topçu

Seit Tagen grummelt es in meinem Bauch. Ich habe Angst um den inneren Frieden in Deutschland. Der Auslöser: Ein Buch, das rund 460 Seiten umfasst. Autor: Thilo Sarrazin. Nach der Lektüre eines im "Spiegel" vorabgedruckten Kapitels war ich anfangs wie gelähmt, dann fassungslos und später wütend. Und jetzt bin ich einfach nur ratlos. Jetzt, nachdem ich mir, um nicht auf Zusendung per Post warten zu müssen, vom Verlag via E-Mail eine PDF-Datei des Buches schicken ließ und bis in die frühen Morgenstunden vor dem Computer saß und las, was Sarrazin in "Deutschland schafft sich ab" geschrieben hat.

Was soll ich sagen als türkischstämmige Frau, die in Deutschland studiert hat, die hier als Journalistin arbeitet, zu einer solchen Schrift? Wird man, wenn man Kritik übt, gleich als beleidigte Leberwurst abgekanzelt? Was aber, wenn ich mich tatsächlich tief gekränkt fühle - wie so viele aus meinem türkischen Freundes- und Bekanntenkreis? Sarrazin pellt sich ein Ei darauf, was seine Einlassungen bei mir und meinesgleichen bewirken und was wir über ihn denken. Und gerade dann, wenn wir negativ reagieren, wird jede unserer Reaktionen ihn nur in seinem längst gefassten und immer wieder verkündeten Urteil bestärken, dass das natürlich nur einmal mehr den vorhersagbaren Wegen folgt – weil wir Migranten muslimischen Glaubens nun mal nicht ernst zu nehmen sind.

Eine extreme Steilvorlage

Ich kann mir leider kein Ei darauf pellen, was Sarrazin so alles von sich gegeben hat. Denn mit der Veröffentlichung seiner extremen Positionen liefert er vielen in Deutschland geborenen Deutschen mit deutschen Eltern, die wie er denken, eine Steilvorlage. Sie fühlen sich, wie ich aus all den vielen Reaktionen nach der Buchvorstellung feststellen musste, in ihren Ansichten bestätigt. Der Tenor: "Der Mann denkt ja wie ich; er war lange Berliner Finanzsenator, jetzt arbeitet er im Vorstand der Bundesbank, und wenn eine so hochrangige Person das alles Schwarz auf Weiß liefert, dann kann mein Urteil ja nicht falsch sein." Sarrazin widerum weiß exakt um diese Wirkung und beschreibt sich selbst im Buch als eine "Person des öffentlichen Lebens, die elementare Lebenszusammenhänge knapp und klar auf den Punkt bringt".

Den Inhalt des Buches, das schon ausverkauft war, noch bevor es offiziell im Handel war, lese ich so: Er spricht mir und meinesgleichen im Grunde eine Daseinsberechtigung in diesem Land ab. Sarrazins Schrift enthält Aussagen, die mir ganz offen gestanden, Übelkeit verursacht haben. Auch Übelkeit ob der ungeheuerlichen Borniertheit dieses Menschen, der sich anmaßt, muslimische Einwanderer dermaßen abschätzig darzustellen. Akribisch legt er dar, dass wir Muslime dumm und faul sind und dass dies alles irgendwie wohl auch noch etwas mit Genetik zu tun hat.

Der wirtschaftliche Mehrwert

Auch sind wir Sozialschmarotzer, bringen für dieses Land keinen wirtschaftlichen Mehrwert, vermehren uns aber wie die Kanickel und bringen unterm Strich das "kulturelle und zivilisatorische Gleichgewicht" aus dem Lot. Kleine Kostprobe gefällig? "Das westliche Abendland sieht sich durch die muslimische Immigration und den wachsenden Einfluss islamischer Glaubensrichtungen mit autoritären, vormodernen, auch antidemokratischen Tendenzen konfrontiert, die nicht nur das eigene Selbstverständnis herausfordern, sondern auch eine direkte Bedrohung unseres Lebensstils darstellen." (Seite 266)

Meine türkische Nachbarin, eine rechtschaffene Frau, Mutter von zwei Kindern, die das Gymnasium besuchen, praktizierende Muslima mit Kopftuch, die regelmäßig in die Moschee geht und den Koran rezitiert, versteht nicht, wieso sie eine Bedrohung sein soll. Sie kennt Sarrazin nicht. Als sie von mir erfuhr, was dieser Mann für eine Meinung über Muslime hat, sagte sie: "Allah bu adama akil versin – Gott möge diesem Mann Verstand geben." Und dann fragte sie: "Was haben wir diesem Menschen denn angetan?"

Sorge um die "Verdünnung"

Ich weiß es nicht. Ich entnehme seinen Einlassungen lediglich, worum sich der 65-Jährige sorgt, nämlich um die "Verdünnung" (Seite 60) der einheimischen Bevölkerung. "Ich möchte nicht, dass wir zu Fremden im eigenen Land werden", schreibt Sarrazin (Seite 309). Und er lässt uns wissen, dass er "eine Veränderung unser[er] Kultur, unserer Zivilisation und unseres Volkscharakters" nicht wünsche (Seite 330). Beim Wort Volkscharakter wird mir seltsam zumute. Eine wie ich, die als Tochter türkischer Einwanderer in diesem Land groß geworden ist und Diskriminierungen nicht nur vom Hörensagen kennt, liest solche Sätze anders als manche Herkunftsdeutsche.

"Jawohl, ich möchte auch nicht zum Fremden im eigenen Land werden", denken nicht wenige. Ich hingegen denke: Hallo? Dies ist auch mein Land, und ich möchte auch so manches für mein Land nicht. Vor allem nicht, dass Dummschwätzer hier Oberwasser kriegen. Und ich wundere mich darüber, dass der SPD-Vorstand bis zur Buchvorstellung am Montag in Berlin gewartet hat, um ein Parteiordnungsverfahren gegen Sarrazin einzuleiten. Kurze Randbemerkung: Dass es auch noch Necla Kelek war, die das Buch vorstellte, war das Sahnehäubchen der Provokationen, die mit diesem Buch in Verbindung stehen.

Hallo? Das ist auch mein Land

Dass Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) klare Worte gesprochen hat, ist beruhigend, aber nicht ausreichend. Es ist dringend ein Signal nötig, um diesem Brandstifter Grenzen zu setzen: die Entlassung aus seinem Amt in der Bundesbank. Aber nicht allein, wie jetzt von unterschiedlichen Seiten gefordert wird, um Schaden für den Ruf des Bundesbank durch Sarrazin abzuwenden. Sondern auch aus Solidarität mit all jenen Menschen, die dieser Sozialdemokrat zu Existenzen reduziert, die den Intelligenzquotienten Deutschlands minimieren und dabei auch noch jede Menge Kosten verursachen.

Sarrazin ist vernarrt in Zahlen und Daten, hält sich bei seiner Analyse unserer Gesellschaft akribisch an Statistiken, ohne nach deren Hintergründen zu fragen und stellt in seiner Schrift klar, dass er nichts von Empathie hält. Ich frage mich: Was will er denn machen mit all jenen, die nicht zu denen gehören, die - aus welchen Gründen auch immer - nicht zum "Mehrwert" beitragen? Und ich denke mir: Wie borniert muss einer sein, um die Menschen auf solche menschenverachtende Weise in "Wir" und "Ihr" aufzuteilen? "Wir" in Deutschland sind nun mal nicht alle exzellent - unabhängig von unserer Herkunft. Und dieses Deutschland ist längst nicht mehr das, was es mal war. Land und Leute sind glücklicherweise nicht mehr so wie vor 70 Jahren, auch nicht mehr wie in den 1950er Jahren. Die ganze Welt verändert sich!

Ein Untergangsszenario

Die Einseitigkeit Sarrazins liegt doch auch darin, dass er Deutschland stets nur als Opfer von außen kommender Einfüsse ansieht. So phantasiert er sich im letzten Kapitel seines Buches ein Untergangsszenario zusammen, wonach im Jahr 2045 in Deutschland nur noch 20 Prozent der Erstklässler Deutsch als Muttersprache haben werden. Tatsächlich aber wirkt Deutschland und wirkt die gesamte Europäische Union heutzutage tief in die muslimische Welt hinein - und bringt dort historische Veränderungen in Gang. Jene, die immer nur zwischen "Wir" und "Ihr" unterscheiden, haben in der Geschichte schon sehr viel Unheil gebracht.

Nicht wenige scheinen das zu vergessen, darunter auch all jene Leser, die auf einen Artikel, in dem ich meine Sorgen ob der Folgen von Sarrazins Schrift geäßert habe, reagiert haben. "Warum nur kommen Sie hier her?????? Bleiben Sie in Ihrer Heimat und verändern dort die Gegebenheiten nach Ihren Vorstellungen. Da hätten Sie genug zu tun." So beispielsweise die Aufforderung eines Herrn aus Niedersachsen.
In der Tat: Ich bleibe hier in meiner Heimat, nämlich hier in Deutschland; denn es gibt hier wirklich noch viel zu tun - damit aus Sarrazins deutschtümeldem "Wir" ein Wir wird, das nicht ausgrenzt.


Canan Topçu ist Redakteurin bei der "Frankfurter Rundschau". Sie lebt in Hanau und arbeitet auch als freiberufliche Journalistin.