Ende der Ehrenrunde: Kein Sitzenbleiben mehr
Als erstes Bundesland schafft Berlin das Sitzenbleiben ab. Zumindest in den neuen Sekundarschulen, die Haupt- und Realschulen zusammenfassen, gibt es in der Hauptstadt seit dem neuen Schuljahr keine Ehrenrunden mehr.
30.08.2010
Von Barbara Schneider

Peer Steinbrück scheiterte an Altgriechisch und Latein, Edmund Stoiber blieb wegen Latein kleben. Auch Harald Schmidt, Thomas Gottschalk, Heinz Sielmann und Guido Westerwelle sind sitzengeblieben. Winston Churchill nannte die Schule gar den "trüben Fleck auf der Landkarte seines Lebens".

Ebenso eine Ehrenrund gedreht hat der Berliner Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD). Sein Bundesland hat zum neuen Schuljahr, das vorige Woche begann, an den neuen Sekundarschulen, die Haupt- und Realschulen zusammenfassen, das Sitzenbleiben abgeschafft. Wiederholen ist hier nur noch auf freiwilliger Basis oder in Verbindung mit einer Bildungs- und Erziehungsvereinbarung und der Zustimmung der Eltern möglich.

Leistungen verbessern sich nicht

"Sitzenbleiben steht schon lange in der Kritik", sagt die Bildungsexpertin der Berliner SPD, Felicitas Tesch. Die meisten Schüler, die ein Schuljahr wiederholten, würden dadurch ihre Leistungen nicht unbedingt verbessern. Und auch Peter Sinram von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) meint: "Alle Kinder haben ihr eigenes Lerntempo." Sitzenbleiben sei ein Misserfolgserlebnis und führe zu "sozialer Stigmatisierung".

Eine ähnliche Ansicht vertritt auch der OECD-Bildungsexperte und PISA-Test-Koordinator Andreas Schleicher. "Sitzenbleiben bringt dem Schüler nichts und ist außerdem ineffizient", sagte er vor einiger Zeit in einem Interview. An anderer Stelle sagte er: "In Skandinavien käme kein Mensch auf die Idee, Schüler dieselbe Klasse mehrmals besuchen zu lassen." Dort arbeiteten Lehrer konstruktiv mit ihren Schülern zusammen und reichten sie bei schlechten Leistungen nicht an den nächsten Kollegen weiter. "Damit werden Schüler bestraft, aber nicht besser."

Jeder 50. Schüler muss wiederholen

Finnland, wo es kein Sitzenbleiben gibt, nahm bei der ersten PISA-Studie vor zehn Jahren einen Spitzenplatz ein. Deutschland rangierte damals im unteren Mittelfeld. Damals wie heute ist die Sitzenbleiberquote hierzulande hoch: Allein im Schuljahr 2008/09 ist dem Statistischen Bundesamt zufolge jeder 50. deutsche Schüler sitzengeblieben, insgesamt waren das rund 184.000 Kinder und Jugendliche. An der Spitze lagen dabei Bayern (3,2 Prozent), Sachsen-Anhalt (3,1 Prozent) und Berlin (3,1 Prozent).

In vielen Bundesländern wurden die Regelungen zum Sitzenbleiben inzwischen gelockert. In Schleswig-Holstein etwa gibt es Sitzenbleiben nur noch beim Übergang von sechs nach sieben, sowie in den Jahrgangsstufen neun bis elf. Um das Wiederholen einer Klasse zu vermeiden, bieten mehrere Bundesländer zudem Nachprüfungen. Oder es wird an Grundschulen jahrgangsübergreifend unterrichtet.

Fachleute sind uneins

Während sich in der Politik immer mehr die Kritik am Sitzenbleiben durchsetzt, gehen die Meinungen in der Wissenschaft auseinander. Teuer und unwirksam sei das Wiederholen einer Klassenstufe, heißt es in einer Studie der Bertelsmann-Stiftung. Darin hat der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm errechnet, das Sitzenbleiben koste den Steuerzahler jährlich knapp eine Milliarde Euro, ohne pädagogische Erfolge zu zeigen. Geld, das laut Klemm "präventiv" eingesetzt werden könnte.

Demgegenüber steht eine Untersuchung des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung, das im Jahr 2004 Daten von mehr als 2.500 ehemaligen Schülern der Geburtsjahrgänge 1961 bis 1973 ausgewertet hatte. Das Ergebnis: "Wer eine Klasse wiederholt, hat gute Chancen, einen besseren Schulabschluss als vergleichbare Mitschüler zu erreichen, die immer versetzt wurden."

"Mir hat es damals auch nicht geschadet"

Einer Argumentation, der auch der Deutsche Lehrerverband folgt. So bezeichnet deren Präsident Josef Kraus die Forderung nach Abschaffung als "pädagogischen Unsinn". Das Versetzen um jeden Preis sei eine krasse Fehlinvestition für die ganze Gesellschaft. "Eine Abschaffung des Sitzenbleibens käme einem Recht auf Wohlfühlschule mit Abiturvollkaskoanspruch gleich", sagt der Chef des Verbandes, in dem vor allem die Gymnasial- und Realschullehrer organisiert sind.

Einer, der die achte Klasse wiederholen musste, ist Bernd Neuer. "Es war eine furchtbare Zeit", erinnert er sich heute. "Ich war damals mit ganz anderen Sachen als Schule beschäftigt." Pubertät, Pickel, die ersten Mädchen-Geschichten. Und dann auch noch zwei Fünfen in Erdkunde und Deutsch.

Bernd Neuer, der im wirklichen Leben anders heißt, ist inzwischen selbst Lehrer geworden. Für Erdkunde und Deutsch. Wie sieht er das Sitzenbleiben heute? "Warum nicht", meint er. Schüler hätten dadurch die Möglichkeit, Schwächen aufzuholen, für faule Schüler sei die drohende Wiederholung vielleicht Motivation, sich doch noch anzustrengen. "Mir hat es damals auch nicht geschadet."

epd