Auch am Rio de la Plata gibt es "Stolpersteine"
Argentinien feiert 200 Jahre Unabhängigkeit von Spanien und ist aus diesem Grund Schwerpunktland der Frankfurter Buchmesse im Oktober. Eine Schau in Berlin zeigt den Beitrag der jüdischen Immigranten zum Aufbau des Landes am Rio de la Plata.
27.08.2010
Von Bernd Buchner

Die argentinischen Juden haben in diesen Monaten gleich doppelt Grund zum Feiern: Vor genau zwei Jahrhunderten erkämpfte sich das Land die Unabhängigkeit von Spanien, und 150 Jahre ist es her, dass die ersten jüdischen Immigranten am Rio de la Plata anlandeten. Aus ganz unterschiedlichen nationalen und kulturellen Kontexten stammend, fühlten sie sich rasch heimisch im "Silberland" – so die Bedeutung des Namens Argentinien - und leisteten einen unverzichtbaren Beitrag zu Schaffenskraft und Reichtum einer vielfältigen Gesellschaft.

Eine kleine, aber feine Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin wirft einen Blick auf das argentinische jüdische Leben, das sich von Beginn an durch eine besondere religiöse und geschichtliche Gedächtniskultur auszeichnete. Juden waren maßgeblich an der landwirtschaftlichen Kolonisation Argentiniens beteiligt – die ersten waren jene 823 Frauen und Männer aus Podolien in der heutigen Ukraine, die 1889 über Bremen nach Südamerika reisten. Alberto Gerchinoff, selbst in Russland geboren, hat den Pionieren später in dem Roman "Los Gauchos Judios" ein Denkmal gesetzt.

Sechstgrößte jüdische Gemeinschaft weltweit

Doch auch in Buenos Aires, wo 1875 die erste Synagoge entstand, und den anderen größeren Städten waren zahlreiche Juden tätig, etwa in Handwerk, Industrie, Kunstgewerbe und vor allem im akademischen Bereich. Ihre absolute Zahl blieb allerdings stets gering. 1895 wurden in Argentinien 6.085 jüdische Bürger gezählt, bei einer Gesamtbevölkerung von mehreren Millionen. Heute leben am Rio de la Plata rund 200.000 Juden – sie bilden nach den USA, Israel, Frankreich, Kanada, Großbritannien und Russland die weltweit sechstgrößte jüdische Gemeinschaft.

Die Schau beginnt augenzwinkernd mit einem Kniff, den die Besucher nicht gleich auf Anhieb verstehen: Auf Büchertischen liegen in jeweils mehreren Exemplaren die Biografien von 200 argentinisch-jüdischen Persönlichkeiten (Foto rechts). Sie wurden nie geschrieben, die mit teils fantasievollen Titeln versehenen Bücher enthalten einen Blindtext – einzig auf den schön gestalteten Einbände finden sich einige Informationen über die Menschen, die Argentinien mitschufen, "indem sie sich in Würde mit ihrer Kraft und Intelligenz in allen Bereichen eingesetzt haben".

Kunstzarin und Tennis-As

Die Bandbreite ist tatsächlich beeindruckend: "Himmelsmechanik" würdigt Miguel Itzigsohn, den Entdecker und Namensgeber von 15 Asteroiden, als "Zarin der Kunsthändler" wird Ruth Benzacar geehrt, in Blackie Efron (1912-1977) die erste Frau an der Spitze eines argentinischen Senders herausgestellt. Buchwürdig sind auch Lucio Félix José Weil, der 1924 das berühmte Frankfurter Institut für Sozialforschung gründete, der Jurist Leopoldo Schiffrin, die Bildhauerin Esther Barugel, die Pädagogin Adriana Puiggrós und nicht zuletzt der Weltklasse-Tennisspieler Martín Jaite.

Bücher stehen auch im Mittelpunkt der Installation "Tragende Säulen", die einen Satz von Rabbi Simon dem Gerechten im Talmud deutet: "Ohne Erinnerung bricht alles zusammen". Das Gesetz, der Dienst am Nächsten und die Menschlichkeit sind die drei Säulen, auf die Simon die Welt gestützt sieht. Das Projekt "Unterirdische Bibliothek II" wiederum versteht sich als Fortsetzung und Dialog mit Micha Ullmans "Bibliothek" am Berliner August-Bebel-Platz, die an die NS-Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 erinnert. Sind die Regale dort leer, haben sie sich hier wieder gefüllt.

Gedenken an Opfer der Militärjunta

Besonders beeindruckend sind in der Schau im Jüdischen Museum die "Pfade der Erinnerung", die einen Bogen von Gunter Demnigs berühmten "Stolpersteinen" zu einer ganz ähnlichen Aktion in Argentinien spannen. Während Demnig mit goldenen Pflastersteinen in ganz Europa an verschleppte und ermordete Juden erinnert, ist die 2006 in Buenos Aires gestartete Initiative "Desaparecidos" den Menschen gewidmet, die in der Zeit der Militärdiktatur (1976-1983) spurlos verschwanden – ihre Zahl wird auf 30.000 geschätzt, darunter 1.900 Juden.

Die in Berlin gezeigte Gedenkplatten (Foto) gelten indes Menschen wie Ingrid Finkelchtain - und den 84 weiteren Todesopfern des schwersten Verbrechens gegen Juden, das es nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben hat: Am 18. Juli 1994 wurde das Kulturzentrum der argentinischen jüdischen Gemeinde, AMIA (Asociación Mutual Israelite Argentina), in Buenos Aires in die Luft gesprengt. Wer die Tat beging, ist bis heute nicht bekannt. Nur das Motiv dürfte klar sein: fanatischer Judenhass.

Inspirierender Einstieg zur Buchmesse

Argentinien war nach 1945 Zufluchtsland für zahlreiche Nationalsozialisten – auf der anderen Seite war die jüdische Gemeinschaft am Rio de la Plata von Anfang an stark deutsch geprägt, wovon nicht nur die "Idishe Tsaitung" und zahlreiche weitere Publikationen Zeugnis geben. Die Frankfurter Buchmesse wird auch die vielfachen Bezüge zwischen dem Alten Kontinent und Südamerika deutlich machen. Die Ausstellung in Berlin, die mit einem Blick auf die jüdische Geschichte und Kultur im argentinischen Film endet, bietet einen inspirierenden Einstieg zu dem Lesefestival. 

Die Ausstellung im Überblick -  "Jüdisches Leben in Argentinien – Beiträge zum 200-jährigen Jubiläum", bis 10. Oktober 2010 im Jüdischen Museum Berlin. Öffnungszeiten: täglich 10 bis 20 Uhr, Montag 10 bis 22 Uhr.

Lesetipp zur 200-Jahrfeier - Sandra Carreras/Barbara Potthast: Eine kleine Geschichte Argentiniens, Berlin 2010. Suhrkamp Verlag, 287 Seiten, 10 Euro. 


Bernd Buchner ist Redakteur bei evangelisch.de und zuständig für die Ressorts Politik und Religion.