Warum Wagner frei ist, die Geschichte umzukehren
Am Samstag gehen in Bayreuth die 99. Richard-Wagner-Festspiele zu Ende. Die Fans des Komponisten "pilgern" wie jedes Jahr zum Grünen Hügel, sehen sich "Bühnenweihfestspiele" und andere Opern mit religiösen Bezügen an. Wie christlich aber sind die Festspiele, welches Verhältnis hatte Wagner selbst zum Glauben? Peter Steinacker ist einer, der es wissen muss: Der ehemalige Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) ist seit Jahrzehnten Gast in Bayreuth, ist Richard Wagner aus religionswissenschaftlicher Sicht auf der Spur und hat vor kurzem ein Buch zum Thema veröffentlicht. Wir haben ihn in seiner Heimat Frankfurt am Main zum Interview getroffen.
26.08.2010
Die Fragen stellte Bernd Buchner

Ein gläubiger Christ und ein Wagnerianer – wie geht das zusammen?

Steinacker: Ich bin kein Wagnerianer. Die sogenannten Wagnerianer haben aus der schwierigen Geschichte Bayreuths vor dem Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg ein "Geschmäckle". Ich liebe Wagners musikalische Werke, teilweise auch Texte von ihm – andere Texte aber sind ganz grauenhaft. Um gleich auf das Religiöse zu kommen, ich behandle Wagners letzte Oper "Parsifal" als eine Art Religion, die er bewusst zur Rettung der seiner Meinung nach degenerierenden deutschen und westeuropäischen Gesellschaft seiner Zeit konzipiert hat. Insofern habe ich zwar einen ästhetischen Zugang zum "Parsifal" und seiner „Klangreligion“, aber selber einen religionswissenschaftlichen und keinen religiösen. Wagnerianer haben eine Art religiösen Zugang zu Wagner. Es gibt viele fromme Christen, die Wagners Werke lieben.

Richard Wagner war zwar evangelisch getauft, aber kein wirklich religiöser Mensch. Was fasziniert einen Theologen an ihm?

Steinacker: Da möchte ich Ihnen widersprechen. Wagner (Foto: dpa) war durchaus ein religiöser Mensch, aber nicht im normalen kirchlichen Sinn. Nietzsche hat richtig erkannt, dass alle seine Opern im Zentrum um Erlösung kreisen. Das ist das zentrale Stichwort der Religion. Für Wagner war das nicht nur ein Sachproblem, sondern er fragte sich selber, wie Erlösung denkbar sein kann ohne die Religion, die ihm in der gesellschaftlichen Gestalt der christlichen Kirchen nicht mehr glaubwürdig erschien. Er hat sich in Bayreuth mit Cosima zur Gemeinde der Stadtkiche gehalten. Aber es ist deutlich, dass Wagner ein höchst ambivalentes Verhältnis zum Christentum hatte.

Seine Vorstellung von Erlösung war ja nun auch eine andere als jene der Christen.

Steinacker: Ja, und Wagners Erlösungshoffnung ist nicht immer gleich geblieben. Es gibt diesen wunderschönen Satz aus dem "Fliegenden Holländer", als der Holländer Senta fragt: "Willst du mein Engel sein?" Hier ist mit Erlösung vom universalen Bann im positiven Sinne durchaus noch zu rechnen. Im "Tannhäuser" wird diese positive Möglichkeit schon problematisiert. Dort werden drei Utopien eines erlösten, auch erotisch gelingenden Lebens vorgeführt. Die eine ist die Wartburgideologie – die scheitert, weil dort Eros und Religion nicht zusammenpassen. In der Venusideologie wird der Eros so ausschließlich gelebt, dass für Schmerz, Verzicht und Leid, die ja auch zum liebenden Leben gehören, kein Platz ist. Dadurch wird die Liebe entmenschlicht. Schließlich der Versuch Tannhäusers, mit Elisabeth eine wirkliche Liebe im Angesicht des Gottes der Liebe zu leben: Das scheitert total, durch ihn selbst, aber auch durch Elisabeth und ihre Umwelt. Übrig bleiben Tod und eine "verhimmelter" Schluss. Im "Lohengrin" dann ist die Säkularisierung auf dem Höhepunkt. Erlösung durch rettende Tat der Transzendenz ist unmöglich: Die Götter haben die Menschen verlassen, sie müssen mit ihrem Leben allein zurechtkommen und schaffen das nicht gut. Ein trauriges Fazit. Wagner reagiert. Im "Ring" hat er seine Weltanschauung geklärt und setzt an den Weltenbrand im Schluss der "Götterdämmerung" wieder ein Erlösungsmotiv. Neues kann nur durch Vernichtung des Alten entstehen. Jedoch der "Parsifal" wird mit einem Gedanken Schopenhauers konkreter: Die einzig mögliche Erlösung besteht in der Umwendung des Willens zum Leben, der Ursache des Weltverhängnisses, gegen sich selbst und durch die Ethik von Mitleid und Askese. Das ist ein deutlich religiöser Ton.

In Wagners Opern mit stark religiösem Kolorit gibt es immer auch die dunkle Gegenwelt: Im "Tannhäuser" tritt zur Marienfrömmigkeit die erotische Venuswelt, im "Parsifal" steht neben der Abendmahlsgesellschaft der christlichen Ritter das finstere Klingsor-Reich. Das Religiöse ist immer angreifbar.

Steinacker: Das gehört zum Religiösen dazu. Paul Tillich hat darauf hingewiesen, dass die Vertreter der liberalen Theologie im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert das Paradox und die Dunkelheit der Religion übersehen haben. Das tat Wagner nicht. Alle Religion hat eine dunkle Rückseite, die mit der Unverfügbarkeit Gottes zusammenhängt, mit seiner letzten Undurchdringlichkeit. Und natürlich auch mit dem Wesen des Menschen, der in sich zweideutig ist, wie wir auch aus der Bibel wissen.

Der mit Abstand längste Artikel in Ihrem Buch "Richard Wagner und die Religion" trägt den Titel "Wotans Gottheit und Welt". Denkt der Theologe in Ihnen nicht, wenn er so etwas konzipiert und schreibt: Das ist eigentlich der falsche Gott?

Steinacker: Natürlich ist das für mich als Christen der falsche Gott. Aber wie mich die Götterwelt des Hinduismus, Allah oder Buddha interessieren, so interessiert mich auch, was Wagner in seiner ästhetischen Sicht als Gottheit entwirft. Wotan ist allerdings keine transzendete Gottheit , sondern wie bei Feuerbach ein ästhetischer Spiegel des menschlichen Wesens und der Daseinsmächte. Er benimmt sich wie ein Mensch, auch seine Macht ist deutlich begrenzt. Er begrenzt sie selbst, indem er seine Welt auf Gerechtigkeit baut, seinen Speer. Zum anderen ist er ungewollt nicht allwissend – deshalb muss er die Weltweise Erda immer wieder heraufholen, die ihm die Welträtsel eröffnet. Erst als er erkannt hat, dass er seine Welt unrettbar verloren hat und loslassen muss, damit sie erlöst werden kann, braucht er Erda nicht mehr. Im "Siegfried" versinkt sie, die Weltweisheit geht unter – und er mit ihr. (Foto: Bernd Buchner)

Was Wagner geschaffen hat, wurde später als "Kunstreligion" bezeichnet – nicht eine künstliche Religion, sondern Religion als Kunst. Ist das nicht blasphemisch?

Steinacker: Nein, es ist eine andere Religion als meine. Wagner hat behauptet, er habe keine neue Religion gründen wollen. Dennoch ist der "Parsifal" Dogma und Liturgie einer neuen Religion, zusammengesetzt aus christlichen, buddhistischen, hinduistischen Versatzstücken, gebaut auf Schopenhauers Metaphysik. Parsifal bleibt aber eine atheistische Religion, weil es keine Transzendenz gibt. Alles, was sich als Erlösung vollzieht, wird diesseitig gedacht. Die Immanenz springt aus sich selbst heraus in die erlösende Weltveränderung. Ein transzendenter Gott ist von Wagner nicht gedacht. Er kommt im "Parsifal" auch gar nicht vor.

Sein Heiland ist ganz von dieser Welt

Wird in dieser Oper nicht geradezu eine Umkehrung christlicher Werte vorgenommen? Das Abendmahl verkehrt sich in sein Gegenteil, indem Leib und Blut in Brot und Wein rückverwandelt werden. Amfortas ist im Gegensatz zu Jesus der einzige Sünder unter Reinen, und der Sohn opfert hier seinen Vater statt umgekehrt. Tat Wagner das absichtslos?

Steinacker: Nein, das ist ganz selbstverständlich Absicht. Dahinter stehen zwei Gedanken. Zum einen weigert sich Wagner, seitdem er Schopenhauer gelesen hat, einen Schöpfergott als sinnvollen Glaubensgegenstand anzuerkennen. Dahinter steckt neben der Evolutionstheorie natürlich auch der Antisemitismus: Mit diesem "Judengott" kann er nichts anfangen. Deshalb ist Wagner völlig frei, die ganze Geschichte umzukehren. Zum anderen hat die von ihm entworfene Heilandsfigur mit dem Christus des Neuen Testaments und des Glaubens nur äußerlich etwas zu tun. Dieser Heiland, das lässt sich auch aus Wagners sogenannten Regenerationsschriften deutlich ableiten, hat keine göttlichen Ursprung, sondern entfaltet sich aus dem Degenerationsdruck, der auf der Gesellschaftund der menschlichen Rasse liegt. Wagner denkt das im Grunde physikalisch: Der Druck wird so stark, dass ein Qualitätssprung erfolgen kann. Der "Parsifal" entwirft mit dem erlösten Gralsritterorden das Modell einer regenerierten Menschheit. In Wagners Auseinandersetzung mit dem merkwürdigen Grafen Gobineau wird das deutlich. Gobineau, ein frommer Katholik, zwar Rassist, aber kein Antisemit, hielt die Degeneration der westlichen Zivilisation für Gottes Willen, also notwendig und unaufhaltsam. Dem widerspricht Wagner. Für ihn kann sich die Gesellschaft regenerieren, wenn sie sich seiner Heilandsfigur zuwendet und anvertraut. Diese ist aber im Unterschied zur Christologie eine völlig immanente Figur, sie hat mit dem Sohn Gottes unseres Glaubens nichts gemeinsam.

Wagner hat sich nicht erst in den Regenerationsschriften, sondern auch schon zuvor, etwa im "Judentum in der Musik", dezidiert antisemitisch geäußert. Den Nationalsozialisten hat das natürlich gefallen. Wie groß ist sein eigener Anteil daran, dass er später so missbraucht wurde?

Steinacker: Wenn man so eine Schrift schreibt wie das "Judentum in der Musik" oder die Regenerationsschriften, in denen es ebenfalls ganz üble Stellen gibt, ist klar, dass das von interessierten Antisemiten beerbt werden kann. Daniel Barenboim, der damals den Skandal in Israel ausgelöst hat, weil er Wagner dirigierte, hat allerdings Recht: Wagner war antisemitisch, seine Musik aber nicht. Ein Musikkenner wie Theodor W. Adorno hat wie andere auch versucht, etwa in der Figur des Beckmesser antisemitische Strömungen in der Musik zu finden. Ich glaube, dass das nicht so stimmt. Cosima Wagner war allerdings eine viel schlimmere Antisemitin als ihr Mann. Sie hat ihn zudem um 47 Jahre überlebt und mit dem Bayreuther Kreis die in der Gesellschaft des Kaiserreiches latente Judenfeindschaft für sich und die Festspiele benutzt. Ihr Sohn Siegfried war zu schwach, um dagegenzuhalten. Ich bin froh, dass Neu-Bayreuth bewusst damit gebrochen hat und Winifred, die Frau Siegfrieds und Freundin Adolf Hitlers, nicht mehr reingelassen hat.

Sie sind seit Jahrzehnten Gast auf dem Grünen Hügel in Bayreuth, auch in diesem Jahr. Wie ist ihr gegenwärtiger Eindruck, etwa vom neuen "Lohengrin", den Hans Neuenfels inszeniert hat?

Steinacker: Ich fand den "Lohengrin" hervorragend. Die Inszenierung war unglaublich anregend, obwohl ich ihr in zentralen Punkten widersprechen würde. Großartig war der Gedanke, die Handlung als "experimentum mundi" zu verstehen, also als Laborversuch, eine menschliche Gattung zu züchten und zu entwickeln. Dieser Versuch scheitert. Es gab auch sehr witzige Einfälle, etwa eine Slapsticknummer mit den beiden Ratten, die dem Laboratorium in die Freiheit entwischen. Im Morgengrauen, während die Trompeten schmettern, hauen die beiden ab. Die musikalische Leitung durch den jungen lettischen Dirigenten Andris Nelsons war wunderbar, schon das Vorspiel hat er unglaublich fein entfaltet. Auch die Sänger haben mit gut gefallen, trotz einiger Einwände. Der Gesamteindruck war fantastisch. Ich war sehr angerührt und finde, Bayeuth ist wieder auf einem besseren Weg. Es hat eine schlimme Zeit gegeben – deren Rest läuft jetzt mit dem "Ring" von Tankred Dorst aus. (Szenenbild aus dem "Lohengrin": dpa)

Mit dem Abschied von Wolfgang Wagner ist auch ein Epochenwechsel verbunden. Welche Perspektiven sehen Sie für die Festspiele?

Steinacker: Mein Eindruck ist nach den zurückliegenden Neuinszenierungen – neben "Lohengrin" waren das die "Meistersinger" und "Parsifal" –, dass die beiden Festspielleiterinnen das inszenatorische und sängerische Niveau wieder heben wollen. Das war leider in den letzten Jahren sehr darnieder. Ich hoffe, dass Bayreuth wieder zu dem Zentrum der Wagnerinterpretation wird. Die Wagnerschwestern haben ja auch neue Ideen – beim Public Viewing bin ich allerdings nicht so überzeugt, dass das die Festspiele retten wird. Das "Tannhäuser"-Kindertheater, das in diesem Jahr stattgefunden hat, finde ich dagegen sehr gut. Das hat denen viel Spaß gemacht.

Der Grüne Hügel öffnet sich mehr zur Stadt Bayreuth hin. Sehen Sie eine Möglichkeit, dass sich auch die Kirchen am Kulturprogramm rund um die Festspiele beteiligen? Sie haben selbst schon eine Reihe von Predigten über "Tristan", "Lohengrin" und andere Wagneropern gehalten – ist so etwas auch in Bayreuth vorstellbar? (Foto: dpa)

Steinacker: Das müsste die Kirche in Bayreuth entscheiden. Vorstellbar ist das. Wir haben von der Stiftung der EKHN aus in Frankfurt am Main seit mehreren Jahren eine Kooperation mit der Oper. Da sich in Wagners Werken durchgehend eine religiöse Spur finden lässt, kann ein Gottesdienst an etwas anknüpfen. An etwas anderem, Fremden, in diesem Fall also am Werk Richard Wagners, kann man sich besser klar werden, was man selbst ist. Der religiöse Dialog ist für uns Christen wichtig, weil wir über das Gespräch nicht nur die anderen, sondern auch uns selbst besser kennenlernen.


Professor Peter Steinacker (66) war von 1993 bis 2008 EKHN-Kirchenpräsident. Als Honorarprofessor für Systematische Theologie ist er an der Philipps-Universität Marburg tätig, zudem hat er einen Lehrauftrag an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Steinacker hat zahlreiche Bücher und Aufsätze zu theologische, philosophischen und kulturellen Themen veröffentlicht. Zuletzt erschien im Jahr 2008 "Richard Wagner und die Religion" (Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 156 Seiten, 29,90 Euro). Im Rahmen des Festivals junger Künstler in Bayreuth hält der Theologe seit einigen Jahren regelmäßig Vorträge.