Klinikseelsorgerin: Ich bin jetzt mal auf Intensiv
Christa Schindler ist Seelsorgerin in einer der größten Kinderkliniken Europas. Sie tauft Frühchen am Inkubator, findet Worte für verzweifelte Mütter. Die Kinder mögen sie, weil sie sich nicht nur mit Psalm 23 auskennt, sondern auch mit ferngesteuerten Autos auf E-Bay. Die Eltern sagen: Die ist so lebendig!
26.08.2010
Von Ursula Ott

Tolle Begrüßung am frühen Morgen. "Tschüss, Brille", quakt es aus dem Intensivbett Nummer sieben. "Brille" ist Klinikseelsorgerin Christa Schindler, 50, deren große dunkellila Brille auf einem schlauen Kopf sitzt. Und der Kopf hat gleich kapiert: Der Patient Sergej*, 6, schwerst mehrfachbehindert, will die Seelsorgerin am liebsten gleich wieder rausschmeißen. Weil die sich auch um Mama kümmert. Mama soll sich aber 24 Stunden am Tag nur um Sergej kümmern, ihm frisch gekochten Zucchinibrei füttern, seinen schweren reglosen Körper umdrehen und seinen Schleim aus der Nase saugen. Nicht sinnlos mit anderen Frauen reden. Drum wiederholt Sergej noch mal: "Tschüss, Brille" und setzt ein kräftiges "Puuups" hinterher.

"Ich hab was für dich, ich komm gleich wieder"

Aha, das ist also Seelsorge. Gut, kein Mensch denkt, dass eine Pfarrerin im Kinderkrankenhaus an diesem brüllend heißen Sommertag mit dem schwarzen Talar herumläuft und Psalm 23 zitiert. Aber das ist denn doch überraschend, dass die erste Amtshandlung einer Pfarrerin darin besteht, einem ziemlich selbstbewussten kleinen Patienten zu sagen: "Pups? Kann ich auch, ich kann sogar super rülpsen." Und ihm dann zu versprechen: "Ich hab was für dich, ich komm gleich wieder."

Nein, sie holt jetzt nicht die Bibel. Jetzt geht es erst mal darum, etwas für Sergejs Laune zu tun, denn es geht ihm wirklich nicht gut, er kann gerade nicht schlucken. "Ich geh jetzt mal zum Auto an meine Trickkiste." Also, auf zum ersten der langen Wege an diesem Tag, denn Christa Schindler arbeitet nicht in irgendeinem Krankenhaus, sondern in einer der größten Kinderkliniken Europas: Städtisches Kinderkrankenhaus Amsterdamer Straße in Köln, 292 Betten, 10.000 Kinder im Jahr, 4.600 Operationen. Ein riesiger Zweckbau aus den 50er Jahren, lange Flure mit weißen Kacheln, ab und an eine Kinderzeichnung, ein Clown, ein Pirat.

Angst vorm Sterben und Angst vorm Weiterleben

Christa Schindler ist zum Glück sportlich, trägt Jeans und T-Shirt, jetzt federt sie flott Richtung Parkhaus, vorbei am Eingang, wo tief verschleierte Frauen mit Babys sitzen, weinende Kinder mit blutig aufgeschlagenen Knien, über ihnen ein Schild: "Wenn Ihr Kind Flecken hat, bitte Seiteneingang benutzen." Iieee, Flecken? Bei der Hitze? Rote Flecken, Tränen und aufgeschlagene Knie sind hier noch das Harmloseste. In diesem Krankenhaus versammeln sich gescheiterte Pläne, enttäuschte Hoffnungen, Angst vorm Sterben und Angst vorm Weiterleben mit einem schwerst kranken Kind. Was sind da schon Flecken.

Zum Beispiel Sergej. Während Christa Schindler zu ihrem VW Sharan trabt, erzählt sie die Kurzversion. "Unfälle", sagt sie, "vergisst hier keiner. Unfälle geben viel mehr Gesprächsstoff her als Krankheiten." Wer hier in der Klinik liegt, weil das Kind mit einem schweren Herzfehler zur Welt kam, ist zwar traurig. "Aber meist haben die Frauen so viel Vorsorge betrieben in der Schwangerschaft, die machen sich keine Vorwürfe." Ganz anders bei Unfällen, da ist immer diese Frage: Warum hab ich nur? Wieso bin ich nicht?
Warum nur ist Sergejs Mutter an diesem verregneten Nachmittag mit ihren zwei kleinen Söhnen noch mal rausgegangen? Der Ehemann, ein Alkoholiker, hatte sie rausgeschickt, damit er in Ruhe trinken und fernsehen kann. Sie hat mit den Kindern zu Fuß eine Straße überquert, wurde von einem Auto erfasst, danach weiß sie nichts mehr. Später sagte man, sie sei wie irre durch die Felder gelaufen und habe nach Sergej gesucht. Sie fand Sergej tot.

Er wurde wiederbelebt. Das ist jetzt drei Jahre her. Sergej lebt, aber er ist vom Hals ab gelähmt, er – der gerade laufen gelernt hatte – wird nie stehen oder laufen, nie viel mehr sprechen können als "Tschüss, Brille", "Pups" und "Frank, keine Panik", Frank ist sein Lieblingspfleger. Sergejs großer Bruder wurde schwer am Kopf verletzt, er ist in der Jugendpsychiatrie. Als Einzige unverletzt, zumindest am Körper, blieb die Mutter.

"Und wissen Sie, um welche Seele ich mich am meisten sorge?", sagt Christa Schindler, während sie aus dem Kofferraum eine Kiste Ahoj-Brause holt, "um die der Mutter." Letzte Woche ist Schindler aufgefallen, dass Sergejs Mutter eine offene, unversorgte Brandwunde am Unterarm hat. Vom Bügeleisen. "Die Frau tut alles für ihre Kinder", sagt sie, "sie putzt und kocht den ganzen Tag, als könne sie einen Teil ihrer vermeintlichen Schuld damit abtragen. Aber sie muss dringend was für sich selber tun."

Wie eröffnet man ein Gespräch?

Die Ahoj-Brause hat Christa Schindler heute Morgen bei Aldi eigentlich für ihre eigenen Kinder gekauft. Egal, jetzt muss improvisiert werden. Sergej kriegt das waldmeistergrüne Prickelzeug auf die Zunge und strahlt. Mama wird für 13 Uhr zum Kaffee eingeladen, und weiter geht es mit der geistlichen Visite. Es ist jetzt zehn Uhr, Hochbetrieb auf der Intensivstation. Aus jedem Zimmer piept ein anderes Gerät, Bildschirme zeigen Herztöne an, aus Luftröhrenschläuchen rauscht und röchelt es. Es gibt Kinder, die hier seit Jahren im Wachkoma liegen, die Eltern kommen nur selten vorbei. Und es gibt das Gegenteil: Winzige Frühchen, um die ganze Großfamilien herumsitzen, patente Omas, die mit warmer Singsangstimme in den Brutkasten sprechen: "Wir haben so lange auf dich gewartet, Nikolaus, wir werden immer für dich da sein."

Wie kommt eine Seelsorgerin hier ins Gespräch? Denn ein bisschen, das muss man sagen, steht sie auch im Weg zwischen den jungen Schwestern im blauen Arbeitsdress, die alle was zu tun haben, was Richtiges: Blut abnehmen, Sonden legen, wiegen, wickeln. Die Pfarrerin will ja nur reden. Wie eröffnet man ein Gespräch? Bei Nikolaus* probiert sie es über den Namen, der steht, genau wie das Geburtsdatum, auf dem Monitor über dem Brutkasten. "Das ist ja ein biblischer Name", sagt sie, aber die Oma bügelt sie ab: "Mit der Kirche hat meine Tochter nichts zu tun. Und wir sind ja eine Mischehe."

Christa Schindler bleibt jetzt einfach eine Weile stehen, bewundert die winzigen Füße von Nikolaus, die zusammengebunden sind wie im alten China. Und plötzlich bricht es aus der Oma regelrecht heraus. "Wissen Sie, dass unser Pfarrer sich nie gekümmert hat? Nicht, als meine Schwester Krebs bekommen hat, nicht, als ihr Mann sie verlassen hat, nicht, als sie gestorben ist und wir die Kinder meiner Schwester bei uns aufgenommen haben." – "Da haben Sie aber auch was geleistet!" Man merkt, es hat der Oma lange keiner gesagt.

"Jede Familie hat einen roten Teppich verdient"

Nächster Brutkasten, nächster Versuch. Eine junge, sorgfältig geschminkte Mutter ist gekommen, um ihr Frühchen eine halbe Stunde auf ihren Bauch zu legen. Das Kind ist so winzig, dass selbst die kleinsten der selbst gestrickten Füßlinge, die die Pfarrerin verschenkt, noch um die Knöchel schlabbern. "Ich wollte Ihnen zu Ihrem hübschen Sohn gratulieren." Die Mutter strahlt. Noch hat sie bestimmt kein einziges Foto, so wie das andere Eltern machen, ins Netz gestellt, noch hat ihr keiner Komplimente gemacht zu ihrem winzigen Kind.

"Jede Familie hat einen roten Teppich verdient", das ist einer der Grundsätze der Seelsorgerin. Drum macht sie Komplimente, gratuliert, und sei das Kind noch so krank. Drum feiert sie Feste mit den Eltern, auch den Muttertag – "das ist mir völlig wurscht, wie altmodisch das ist, die Mütter, die hier sind, machen einen Riesenjob." Die Mütter kriegen eine Rose und Prosecco-Gummibären, die werden nachher beim Evangelischen Kirchenverband abgerechnet, 6,40 Euro. Andere Pfarrer reichen Quittungen vom Kerzenladen ein, Christa Schindler bringt auch welche vom Zuckerparadies "Bärenland".

Ein Fußabdruck, eine Locke: Verabschiedung von Greta

Feste feiern – das kann sie gut, die Pfarrerin. Zum Beispiel für Greta, die mit 480 Gramm und dem Downsyndrom auf die Welt kam. Von der man hoffte, sie würde das Atmen lernen. Jeden Tag saßen die Eltern vor dem Inkubator, Tag und Nacht, und nach 100 Tagen sagte Christa Schindler zu der übermüdeten Familie: "100 Tage, das muss gefeiert werden!" Sie brachte Greta eine Stoffgiraffe von Sigikid mit, und siehe da, Greta konnte danach greifen.

50 Tage später starb Greta. Die Eltern haben eine Giraffe auf den Sarg gemalt. Von den vielen Dingen, die sich die Eltern für Greta ausgemalt hatten, was sie mal machen würde – laufen, "Mama" sagen, in die Schule gehen – war dies das Einzige geblieben, was sich erfüllt hatte: Greta hatte nach der Giraffe gegriffen. Die Pfarrerin, das merkt man, wird Greta nie vergessen. Kaffeepause in dem winzigen Kabuff, in dem die Seelsorgerin ihr Büro hat. Der Computer ist seit Dezember kaputt, die Sitzgruppe in die Jahre gekommen, jetzt sucht sie im Schreibtisch nach Gretas Fotoalbum. Aber erst mal sucht sie nach ihrem Schlüssel, und außerdem klingelt schon wieder das Handy, ein Kollege will wissen, wann sie die Ehrenamtlichen schulen kann in Sachen Sterbebegleitung.

Als sie im Auto zur letzten Schulung unterwegs war, rief die Intensivstation an, sie hätten da ein hirntotes Kind, ob sie den Eltern beim Verabschieden helfen könne. Was ist wichtiger? Lebendige Ehrenamtliche oder tote Kinder? Jetzt also schon wieder Ehrenamtlichentermine, und der Schlüssel ist auch verbaggert. "Schindler, wo bist du?", ermahnt sie sich selber, schon klar, die Frau hat viel um die Ohren. Jetzt findet sie Gretas Album, mit Gretas Fußabdruck und der Giraffe auf dem Titel. Auf einem Foto ist Greta gestorben, wie eine kleine Puppe aus Wachs liegt sie auf dem Arm der Mutter.

Einen Fußabdruck, eine Locke – das haben die Seelsorgerin und die Eltern beim Verabschieden von dem toten Kind mitgenommen. "Wenn Sie doch noch ein Foto von Greta wollen, rufen Sie mich an." Kurz danach riefen die Eltern tatsächlich an, und die Pfarrerin musste ihr Wort halten. "So was mach ich auch nicht alle Tage", sagt sie. Für so was hat sie eine spezielle CD, mit der sie sich Mut macht. Gipsy Kings, spanische Musik. Die hat sie sich an einem Samstagnachmittag ins Autoradio geschoben, ist in die Klinik gefahren, hat den Kühlraum aufgeschlossen und hat Greta aus ihrem Seidentuch ausgewickelt. "Nur Greta und ich – sagen Sie jetzt nicht, ich spinne. Aber Greta war im Raum in diesem Moment." Auf jeden Fall hat die Pfarrerin mit ihr gesprochen. "Hey Greta, wir machen jetzt Fotos. Guck mal, wie hübsch du aussiehst."

Nicht nur die Bibel schenkt Hoffnung

Alle Eltern, deren Kinder gestorben sind, auch wenn der Todestag schon Jahre zurückliegt, bekommen zu Weihnachten eine Karte und einen Kalender. Und das Angebot, dass sie zu der Pfarrerin kommen können, auch nach langer Zeit noch. "Der Jahresablauf, die christlichen Feiertage – das ist ganz wichtig, wenn man hier monatelang liegt und ein Tag wie der andere ist." Drum bastelt sie im Advent mit den Kindern Weihnachtssterne, die sie zu Hause vorschneidet – wer Kanülen im Arm hat, kann kaum die Kinderschere halten.

Ob sie auch Kinderbibeln verschenkt? Ja klar. "Ich war früher nicht die große Missionarin", sagt sie, "aber Sie glauben gar nicht, was ich damit schon erlebt habe." Neulich besprach sie auf der Intensivstation eine Taufe, da meldete sich eine Frau vom Nachbarbett. "Würden Sie mir auch eine Bibel schenken?" Die Frau war vermutlich nicht gläubig, und ihr Kind ist blind. "Aber wenn alles ganz schlimm ist, dann ist die Bibel auch Hoffnung."

Hoffnung ist ein großes Wort in einer Kinderklinik, die sehr seltene Operationen macht, sehr gefährliche. Hoffnung ist zum Beispiel, wenn ein Arzt einem Frühchen nicht nur eine künstliche Scheide modelliert und einen künstlichen Darmausgang zurückverlegt. Sondern der Mutter sagt: "Schauen Sie, ich habe Ihrer Tochter die Darmnaht unter dem Bikinirand gemacht." Bikini! Vielleicht wird das Mädchen die nächsten Tage gar nicht überleben. Aber vielleicht doch. Vielleicht wird es eines Tages einen Bikini tragen, am Strand liegen, schön sein. Hoffnung.

"Die Frau Pfarrer hat nur einen Chef, den da oben"

Solche Ärzte findet Christa Schindler gut, ach, wenn es doch mehr davon gäbe. Einem der netteren läuft sie beim Rückweg vom Büro in die Arme, "Hallo Frau Hochwürden", es ist der Leiter der Radiologie, Maximilian Kellner, ein alerter Bayer. Auch er sagt gleich das Wort "Hoffnung", wenn er gefragt wird, was die Seelsorgerin für ihn bedeutet "Was soll ich denn sonst den Eltern sagen, wenn wir hier vor einem Röntgenbild mit einem großen Karzinom sitzen? Dass da Licht am Ende des Tunnels ist? Da bin ich froh, dass ich die zur Frau Pfarrer schicken kann." Was er noch gut an ihr findet? "Dass die nur einen Chef hat, den da oben." Ein großes Wort von einem Chefarzt.

Es trifft die Sache ziemlich gut, denn eine Seelsorgerin hat tatsächlich in der Klinikhierarchie keinen festen Platz. Sie ist ja bei der Kirche angestellt, nicht bei der Stadt. Gut oder schlecht? "Eigentlich müsste das Krankenhaus das leisten, was Frau Schindler leistet", findet der Radiologe. Und auch der oberste Chef, der Ärztliche Direktor Professor Michael Weiß, sagt ein wenig wehmütig: "Früher hatten wir Ärzte selber mehr Zeit, die Geschichte der Patienten zu erfragen."

Networking: "Ich habe überall meine Kabel gespannt"

Die Patienten schätzen ihre Unabhängigkeit. "Sie ist nicht nur ein Teil von einem System, sondern sie ist einfach da", sagt ein Vater, dessen Kind fast ein Jahr auf der Onkologie lag. "Und sie ist so lebendig." So lebendig, dass sie mit seinem kleinen Sohn Luis Fachgespräche über ferngesteuerte Traktoren führt. Luis, 8, hat einen kleinen Traktor von Lanz, und die Pfarrerin sammelt als Hobby ferngesteuerte Autos, vor allem alte Käfer. "Luis, ich guck heute Nacht mal bei E-Bay", verspricht sie ihm, "da gibt’s kleine Milchkannen für deinen Traktor." Luis strahlt.

Wer keinen festen Platz im Gefüge hat, muss networken. Mit den Ärzten. Mit dem Koch, der auch mal ein Extraeis ausgibt. Mit den Krankenschwestern, den Röntgenassi tentinnen. "Der Isabel bring ich nachher gleich eine Packung Merci vorbei, der durfte ich neulich eine Kindergruppe schicken, um ihre Teddybären zu röntgen. Und der Chef hat noch nicht mal gefragt, wer das Röntgenpapier bezahlt." Mit der Sozialarbeiterin, mit der Stillberaterin, mit der Clownin – "ich habe überall meine Kabel gespannt."

Verschnaufpause

Es ist gleich Mittag, Zeit für die Verabredung mit Sergejs Mutter. Für Sergej nimmt die Pfarrerin eine Kinderbibel mit, mit großen Bildern. "Wenn er Shaun das Schaf auf DVD gucken kann, kann er auch die Bilder von der Arche Noah durchblättern." Sergejs Mutter steht schon draußen in der Mittagshitze, sie telefoniert mit dem Handy. Sie muss jetzt viel regeln, Krankenkasse, Hartz IV, Pflegedienst, der Mann hat seine Arbeit verloren, den Mann hat sie eigentlich rausgeschmissen, aber die Großfamilie macht Stress, und das Auto muss auch noch verkauft werden. Viele Handytelefonate auf Serbokroatisch.

Die Pfarrerin wartet vor dem Eingang, bis ihr Schützling mit telefonieren fertig ist. Verschnaufpause. Paare sitzen hier auf dem, was vielleicht mal ein Brunnen war, aber jetzt eine triste Mauer aus verkalktem Waschbeton ist. Wie schön wäre es, wenn man hier in Ruhe sitzen könnte, denn es wird viel geweint, gesessen, sich angeschwiegen. Es gibt eine einzige Bank, da sitzen die Raucher. Gegenüber die Messingskulptur einer strickenden Frau, der haben Unbekannte das Strickzeug abgeschraubt. Jetzt steht sie da mit leeren Händen. Einzige Alternative zur abgebrochenen Mauer ist ein düsterer Kiosk mit – im Hochsommer! – Grünkohl mit Mettwurst im Angebot und kleinen Rettungshubschraubern aus Plastik.

In-vitro-Fertilisation: Muss das sein?

Ein Krankenwagen mit Blaulicht kommt angerast, auf dem roten Lack ein Piktogramm, das aussieht wie ein Embryo, "Babyintensivexpress". Hier werden im Transport-Inkubator – das sind kleine Hightech-Boxen aus Plastik – winzige Frühchen angeliefert, oft aus Holweide, einer Spitzenklinik in Sachen Geburt, rund drei Kilometer entfernt. Oft sind es auch gleich zwei oder drei Winzlinge, weil bei In-vitro-Fertilisation mehrere Embryonen verpflanzt werden.

Ein ethisches Urteil mag die Theologin darüber nicht fällen, ein Kind ist ein Kind und muss versorgt werden. Aber Gerede gibt es schon im Krankenhaus, wenn künstlich erzeugte Drillinge in der 22. Woche auf die Welt kommen. Und acht Wochen Intensivpflege, wie die Schwestern dann tuscheln, sehr viel Geld kosten. So darf man nicht denken? Die Krankenschwestern sind auch nur Menschen, und zwar im besten Alter, um selber schwanger zu werden. Klar kommt man da ins Grübeln. Muss das sein? So viel Aufwand, nur damit jeder ein Kind kriegen kann? Und die Pfarrerin ist dann auch die Seelsorgerin für die Angestellten. Jetzt endlich ist Sergejs Mutter mit ihren Telefonaten fertig, Christa Schindler lädt sie ein zu einem Milchkaffee in die "Oase".

Spontanparty bei Ronald Mc Donald

Das ist der neue Lichtblick auf dem Gelände, eröffnet erst im April 2009, finanziert von der McDonald’s Kinderhilfe und Spenden Kölner Bürger. Hier kann man in Ruhe sitzen, etwas trinken und sogar selber kochen, während die Kinder nebenan spielen. Hier hat die Pfarrerin neulich mit einer Mutter deren 30. Geburtstag gefeiert, ganz spontan. Die Einladungen waren längst verschickt worden, die Mutter wollte nach sieben Monaten im Krankenhaus mit dem früh geborenen Baby endlich zu Hause feiern, hatte sogar Wärmelampen für den Garten gekauft und alle Freunde eingeladen.

War nichts, das Kind musste am Vorabend von Mutters Geburtstag wieder in die Klinik. Diagnose: Krebs. Also Spontanparty bei Ronald Mc Donald, der Ehemann buk über Nacht eine dreistöckige Geburtstagstorte, und wenn Freunde anriefen auf dem Handy und sagten: "Bin gleich da, soll ich noch Sekt mitbringen?" – dann sagte die tapfere Mutter: "Sekt ist o.k., aber die Partyadresse hat sich geändert. Amsterdamer Straße!"

Die Wohnung wird auch ohne Putzen überleben

Hier kann man sogar übernachten, im neu gebauten Ronald-McDonald-Haus, wenn das Kind wochen-, manchmal monatelang nebenan im Krankenhaus liegt. Genau das will die Pfarrerin der übermüdeten kroatischen Mutter vorschlagen, drum sitzt sie jetzt hier mit ihr. Die erzählt unermüdlich, wie sie zu Hause putzt, wie sie das Badezimmer putzt, wie schwer der neue Boden zu putzen ist. Putzen, putzen, putzen, es ist, als ob sie den ganzen schrecklichen Unfall, die ganzen Selbstvorwürfe am liebsten wegputzen würde.

Die Pfarrerin hört lange zu. Sagt auch mal, dass Laminat besser zu putzen ist als Fliesen. Dass jetzt aber auch mal Schluss sein muss mit Vorwürfen. "Sie haben einen Riesenberg abgetragen die letzten Jahre, Sie können so stolz auf sich sein." Und redet ihr gut zu, sich wenigstens auf die Warteliste setzen zu lassen, absagen kann man immer noch. Ein paar Tage ausruhen, schlafen, nicht jeden Tag hin- und herhetzen über die Autobahn. Ein paar Tage wird Sergej auch Fertigkost essen können, das wird ihn nicht umbringen, ein paar Tage wird die Wohnung auch ohne Putzen überleben. Mal sehen, ob sie das macht. Um halb drei sind alle erschöpft. Die kroatische Mutter vom Erzählen, die Pfarrerin vom Zuhören.

Tagesabschluss - ein Rauswurf: "Danke, sparen Sie sich die Mühe"

Eine letzte Runde durch die Intensivstation, ein neues Kind ist gekommen, ein Frühchen. Christa Schindler geht in das Zimmer: "Guten Tag, ich wollte mich vorstellen, ich bin die Pfarrerin." Der junge Vater, der am Inkubator steht, sagt nur einen Satz. "Danke, sparen Sie sich die Mühe." Wumm, das saß. "Ich wollte Ihnen nur alles Gute wünschen", sagt Schindler und geht. "Das ist mir in den 15 Jahren hier erst zwei Mal passiert", sie muss sich jetzt einen Moment setzen. Der Tag hat mit einem Rauswurf angefangen, "Tschüss, Brille", der Tag hört mit einem Rauswurf auf. Ganz schön hart, aber da klingelt eh schon wieder das Handy. Diesmal ist es das eigene Kind, der mittlere von drei Söhnen zwischen acht und zwölf, er hat sich den Zehnagel beim Fußball eingerissen. "Nimm drei Globuli, ich mach mich jetzt auf den Heimweg. Wenn es nicht besser wird, gehen wir zu Doktor Bühler."

Die Kinder sind es gewohnt, dass Mama arbeitet. Der Zehnjährige hat sie mal gefragt: "Was muss man machen, um so krank zu werden, dass man ins Krankenhaus darf?" Der Jüngste darf manchmal mitkommen zur Arbeit. Wenn Mama – die wegen der Kinder Teilzeit arbeitet – zu einem Notfall außerhalb der Arbeitszeiten in die Klinik kommen muss, darf der Kleine schon mal mit ins Spielzimmer kommen. Ein kleiner, stickiger Raum, aber ein Spielzeugparadies voller Monopoly, Kicker und Ritterburgen. Alles Geschenke, vor Weihnachten geben sich Kölner Haie, der 1. FC Köln und Rewe die Klinke in die Hand. Schindlers Kinder wissen: "Falls wir jemals ins Krankenhaus müssen, dann unbedingt vor Weihnachten."

Meist springt allerdings der Vater ein, wenn die Mutter ins Krankenhaus gerufen wird. Der ist Geschäftsführer eines Industrieverbandes und auch viel unterwegs, aber er hilft viel. Neulich zum Beispiel, Ostersamstagnachmittag. Da war sie gerade dabei, eine Quark-Aprikosentorte zu backen, als das Handy klingelte. Notfall. "Ich hatte gerade die Gelatine eingeweicht, da musste ich weg." Der Ehemann kann viel, aber backen kann er gar nicht. Und dann? "Gab’s eben Matschtorte zu Ostern." Schlimm? Schlimm ist was anderes.

Info:

Der Text ist erstmals erschienen in der Septemberausgabe des evangelischen Magazin "chrismon". Das Septemberheft erscheint am 29.8.2010 in "Der Tagesspiegel", am 30.8.2010 in "Frankfurter Allgemeine Zeitung" und "Potsdamer Neueste Nachrichten" und "Süddeutsche Zeitung", am 1.9.2010 in "Mitteldeutsche Zeitung" und "Schweriner Volkszeitung" sowie am 2.9.2010 in "Die Zeit".


Über die Autorin:

Ursula Ott, 45, ist stellvertretende Chefredakteurin von chrismon, Chefredakteurin von evangelisch.de und Mutter von zwei Kindern.