"Erwischt einen die Kälte, ist man machtlos"
Es ist ein Trend, der viele Menschen erfasst. Raus aus dem Alltag, mal was Neues machen, sich selbst verwirklichen, Grenzen überwinden: Das klingt erst einmal großartig. Aber der Mensch muss wissen, was er tut. Die richtige Vorbereitung ist entscheidend. Das hat unsere Autorin Katrin Wienefeld am eigenen Leib erlebt: Sie war beim Vilmschwimmen dabei, durch die Ostsee von der Insel Vilm bis zur Insel Rügen. An ihren Grenzen wäre sie fast gescheitert. Und trotzdem: Sie wird es wieder tun.
24.08.2010
von Katrin Wienefeld

Bis zur roten Feuertonne geht alles gut. Das Wasser spritzt bei jedem Armzug, welch eine Freude. Soweit draußen in einem offenen Gewässer bin ich noch nie geschwommen und ich habe vor, das Ufer noch weiter hinter mir zu lassen. Um mich herum: lauter gelbe Badekappen. Ich bin mitten unter Schwimmern bei meiner ersten Langstrecke im Meer. Als letzte bin ich gestartet, denn ich wollte nicht vorn in den Pulk, wo man Fußtritte und Armpuffer riskiert.

280 Schwimmer machen dieses Jahr mit beim Vilmschwimmen vor der Insel Rügen. Zweitausendfünfhundert Meter haben wir vor uns – so lang ist die Strecke von der Insel Vilm zum Hafen Lauterbach auf Rügen. Zwei Kilometer fünfhundert - nicht viel für eine, die viermal die Woche zum Schwimmen geht, die anständig jede Lage beherrscht und dabei sehr gut den Bruststil kann. So hatte ich gedacht.

Beim Vilmschwimmen ist jeder willkommen

Ich mache einen Dreher auf den Rücken, schaue in den Himmel. Die Sonne scheint, Kanufahrer kreuzen. Wir sind sicher, auf zwei Schwimmer kommt ein Helfer. Rund 80 Leute von der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft, der DLRG, und der Wasserwacht des Deutschen Roten Kreuzes, dem DRK, sind dabei und die Jungs und Mädchen vom Kanuverein Stralsund. Die Motorboote gleiten rechts von uns in Lee, der Wind abgewandten Seite, damit wir die Abgase nicht abbekommen.

Sechs Ostseeschwimmen gibt es an der ostdeutschen Küste in der Sommersaison. Das schönste dabei ist das Vilmschwimmen. Seit 1999 findet es statt, dank Torsten Thiede, Leiter der DRK-Wasserwacht Samtens. Thiede ist Rüganer, und er liebt die See. Nach der Wende hatte der 46-Jährige in den Annalen der Stadt Putbus geforscht und war auf eine Aktion des Sportlehrers Hannes Knapp gestoßen. Der hatte 1947 nach einem sportlichen Höhepunkt für seine Schüler gesucht und war auf die Idee gekommen, mit den Jugendlichen hinüber zur Insel Vilm zu schwimmen. Doch 1959 war damit Schluss. Die SED-Führungsriege wählte Vilm als Sommerfrische aus, auf die Bonzeninsel durfte fortan niemand mehr.

Heute ist das Eiland ein Naturschutzgebiet. Nur Tagesgäste und wir Vilmschwimmer dürfen es betreten. Der Älteste von uns ist 76, die Jüngste 14 Jahre alt. Die meisten machen immer wieder mit. "Hier ist jeder willkommen", hatte man mir bei der Anmeldung gesagt, "aber im Meer sollte man vorher schon trainiert haben". Den letzten Hinweis habe ich allerdings ignoriert. Im Meer war ich dieses Jahr noch nicht. Als gute Schwimmerin genügt es doch allemal, im See bei Hamburg zu üben für die wenigen Kilometer. So wild kann die Ostsee nicht sein.

"Wir sehen uns in einer Stunde"

Die Jule, das Lauterbacher Fahrgastschiff, deren Kapitän wie viele Lauterbacher an diesem Tag mithilft, hat uns morgens nach Vilm hinüber gefahren. Jeder ist an Land geeilt, in der Hand einen blauen Plastiksack. Man streift sich Badesachen über und packt Jacke und Hose in die Säcke, die je eine Nummer tragen. Wir müssen sie ja später wiederfinden auf der Jule, die nun mit den Säcken zurück schippert. Die gelben Kappen sind Pflicht und werden vom Veranstalter verteilt. Jetzt gilt: Nur mit Armeskraft kommen wir zurück.

Auf dem Steg steht schon Elisabeth Buhl. Die 73-jährige Rüganerin ist die älteste weibliche Teilnehmerin von uns. "Für mich ist Schwimmen der Weg, um fit zu bleiben. Und jedes Mal bin ich stolz und glücklich, wenn ich es geschafft habe", sagt sie und macht ein paar Armschwenker zum Aufwärmen. Sie hat in elf Jahren noch kein Vilmschwimmen verpasst. Auch Peter, mein Zeltnachbar von der Hafenwiese, wirkt unerschrocken. "Wir sehen uns in einer Stunde auf Rügen wieder", ruft er mir zu.

Der Startschuss fällt. Die ersten fünfzehn Minuten geht es mir wunderbar. Je weiter wir von der Insel wegschwimmen, desto mehr Wellen kommen. Es sind diese typischen Kippelwellen der Ostsee, die das Atmen schwierig machen. Sie rollen unberechenbar an, mal im Rhythmus eines Zweier-Atemzuges, mal im Takt eines Dreier- oder Viererzuges. Vielleicht kraule ich jetzt ein bisschen schneller, um voran zu kommen. Es ist ja überhaupt nichts dran an so einem Schwimmen. Es könnte ewig so weitergehen. Ich überhole zwei Brustschwimmer. Doch dann - was ist los? Mir wird kalt, ja, ich merke am ganzen Körper, dass da eine Kälte kriecht.

Den Ostseewellen ausgeliefert

Endlich bin ich auf Höhe der Feuertonne. Dort paddeln zwei Kanuten, ich ziehe noch mit im Gros der Schwimmer. Aber auf der Bootsfahrt zur Insel habe ich gesehen, dass die Tonne erst nach zwei Drittel der Strecke auftauchte. Ich habe erst 800 Meter geschafft? Der Körper wird kälter. Normalerweise gehe ich aus dem Wasser, wenn Rücken und Seiten sich so kühl anfühlen. He, du musst jetzt raus! Nein, los, schwimm zu!

Als Schwimmer kennt man das Zittern des Körpers. Wenn die Umgebung kälter ist als die Körpertemperatur, droht stets eine Unterkühlung. Der Körper gibt Wärme ab, im Wasser schneller als an der Luft – frieren kann man auch in beheizten 28-Grad-Bädern. Wenn der Beckenrand greifbar ist, der Strand in Reichweite, macht das nichts. Jetzt aber fühle ich mich ausgeliefert in den salzigen Wellen, das Ufer ist nur schemenhaft zu sehen. Es ist ein anderes Schwimmen als in meinem kleinen Hamburger See. Auch Wellengang gab es dort auch nicht.

Ich spreche in Gedanken ein Weiter! mach Weiter! vor mich hin, es klingt hohl. Plötzlich sehe ich neben mir ein Kanu auftauchen. Ob ich denen sage, dass es schweinekalt ist? Mach weiter! feuere ich mich an. Drei Stunden später, wenn alles vorbei ist, werde ich an die beiden Extrembergläufer denken, die während des Zugspitzlaufs 2008 auf dem Weg zum Gipfel starben.

Unterkühlung kann lebensgefährlich sein

Kurz zuvor hatte ich mit Norbert Matthes, dem stellvertretenden Bundesarzt der DLRG, über die Ärmelkanalschwimmer gesprochen. Die Extremsportler schwimmen mehr als 32 Kilometer durch den 14 Grad kalten Kanal von England nach Frankreich, manche benötigen zehn, einige zwanzig Stunden. Wie halten die das durch? Es sei ein Trainingseffekt, erklärte Matthes. Die Sportler haben sich an kaltes Wasser gewöhnt und sind fähig, die Kälte zu ertragen. Eine gefährliche Unterkühlung, so sagte Matthes, zeige sich nicht bei denen, die noch zittern.

Bedenklich sei die Phase, sagte Matthes, wenn die Abwehr des Körpers gegen die Kälte in Erschlaffung übergeht, der Organismus nicht mehr in der Lage sei, Wärme zu produzieren, die Muskulatur sich nicht mehr bewege. Bei schwerer Hypothermie werde das Bewusstsein getrübt, die Selbsteinschätzung des Schwimmers fehlerhaft. In diesem Zustand drohen Herzrhythmusstörungen und Ohnmachten. Eine Körpertkerntemperatur von weniger als 32 Grad ist lebensgefährlich. Ich schwimme weiter.

Ich kann nicht mehr abschätzen, wie viel Zeit vergeht. Ich wähle Bruststil, die Arme sind zu steif, um sie kraulen zu lassen. Weiter! Immer neue Bojen, die als Markierungen die Strecke anzeigen, tauchen vor mir auf. Kein Land in Sicht. Die Finger schmerzen. Ich kann sie nicht mehr zusammenhalten. Erste Lektion im Schwimmunterricht: Die Hände müssen wie Paddel sein, um dem Wasser Widerstand zu bieten. Streng dich an. Da vorn, endlich, erblicke ich eines der Segelboote, die in Lauterbach vor Anker liegen. Gleich bin ich da.

Erwischt einen die Kälte, ist man machtlos

Als die Hafentreppe in Sicht kommt, spüre ich keine Erleichterung. Am Geländer ziehen mich zwei Männerarme aus dem Wasser. He, hier braucht jemand Hilfe, höre ich eine Stimme rufen. Einer legt mir ein Handtuch um die Schultern. Ein anderer umfasst meine Taille und führt mich zu der Notfallbahre, ich falle fast auf die Liege. Man trägt mich durch das Spalier der Zuschauer. Wie unangenehm. Im Notfallzelt wird eine Wärmedecke mit Alubeschichtung um mich gelegt. Ein Sanitäter klemmt mir ein Thermometer unter die Achsel, der Arzt kommt mit einer Spritze. Sie bekommen eine warme Kochsalzlösung injiziert, dann geht es wieder, sagt er und hält mir eine Tasse mit dampfendem Tee an die Lippen. Meine Hände zittern zu stark, als dass ich sie halten könnte. Wissen Sie, wie Sie heißen? Welcher Tag heute ist? Der Sani liest das Thermometer ab: Körpertemperatur 30,4 Grad. Okay, sagt der Arzt, ruf mal den Rettungswagen.

Der ganze Körper zittert, sogar um den Mund herum habe ich keine Kontrolle. Nach fünf Minuten wird es schwächer, eine angenehme Müdigkeit tritt ein. Klarer werden die Gedanken. Als die Rettungsleute kommen, lächelt die Schwester unnachgiebig über meine Beteuerungen, dass es mir schon besser gehe. Auf der Fahrt zur Klinik nach Bergen wird ein EKG gemacht. Ich kann schon wieder diskutieren. Müssen Sie oft unterkühlte Leute retten? Hauptsächlich leichtsinnige Freizeitskipper, sagt die Sanitäterin. Ich sei durchtrainiert, sagt sie, deswegen erhole ich mich so schnell.

Welche Unterschätzung des Meeres. Vielleicht ist es kein Wunder, dass Seeleute in der Regel nicht gern schwimmen. Wenn das Schiff sinkt, ist das Meer ihr Feind. Auf hoher See gibt es keinen Halt. Sie bietet nichts, um sich auszuruhen. Ein Läufer kann sich hinsetzen, ein Radfahrer sein Rad rollen lassen. Erwischt einen die Kälte, ist man machtlos.

Beim nächsten Mal einen halben Schritt zurück

Ich denke an die Sätze von Torsten Thiede. Ehrgeiz ist fehl am Platz, hatte er gesagt. Wer nicht mehr kann, hebt die Hand, dann wird er aufs Kanu geholt. Aber ich bin doch eine so gute Schwimmerin! Ich ahne, ich hätte mich niemals überreden lassen, in ein Boot zu steigen, wenn mich einer der Kanuten angesprochen hätte. Ich wollte schwimmend an den Hafen gelangen. Ich merkte nicht so sehr die Schwäche im Körper als vielmehr eine Überraschung über die Kraftlosigkeit. Mir war kalt, doch ich spürte nicht, wie sehr. Ich wollte ankommen, die Zeit war mir gleich. Haben die Läufer zur Zugspitze vielleicht ähnlich empfunden? Sie hatten nicht aufgegeben trotz Regen und Schneesturmes, der plötzlich tobte. Nur hoch auf den Gipfel, es geht doch, noch diesen einen Schritt, los, setz den nächsten!

Nach einem kurzen Check im Krankenhaus entlasse ich mich selbst und fahre mit dem Bus zurück. Die Scham über meinen Ehrgeiz vergeht, als ich wieder unter den Schwimmern bin. Peter umarmt mich. "Mensch, hast du gezittert", sagt er, "Was meinst du, wie schnell du gewesen wärest, wenn du nicht rauchen würdest. Aber Glückwunsch!" Er reicht mir eine Urkunde mit meinem Namen darauf. 61 Minuten habe ich gebraucht.

Alle Schwimmer sind angekommen, auch die Veteranin Buhl, die jeden Sommer bei Wind und Regen ins Meer geht. Mich fasziniert die Unerschrockenheit und die Fitness der jungen und alten Sportler, doch meine Angst vorm Frieren bleibt. Du musst wieder Vertrauen zu deiner Kraft und zum kalten Wasser bekommen, rät mir später eine Freundin. Geh einen halben Schritt zurück, versuche es noch mal auf einer kürzeren Strecke. Im September findet das letzte Schwimmen der Saison vor der Insel Usedom statt. Zwei Kilometer durchs Meer. Ich werde die Hand heben, wenn ich nicht mehr kann.

Wasserenthusiasten haben in diesem Sommer noch zweimal die Gelegenheit, sich mit Begleitung in die Ostseefluten zu wagen. Am 28. August startet das 16. Wismarbuchtschwimmen, 3,5 Kilometer lang und eher für ausdauernde Schwimmer geeignet. Zum Saisonende am 5. September können auch Anfänger bei der Grünen Welle vor Usedom auf drei Strecken starten: 800 Meter für Hobbyschwimmer, 2 Kilometer und 4,4 Kilometer für geübte Schwimmer.


Katrin Wienefeld arbeitet als selbstständige Journalistin in Hamburg. Sie schreibt für Hamburger Magazine und für die Hamburg-Bände von Marco Polo. Zuvor war sie beim Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt, der taz hamburg und Mitarbeiterin bei Chrismon.