Frostenwalde: Letzte Chance für jugendliche Straftäter
Minderjährige Straftäter machen immer häufiger Schlagzeilen, so wie zuletzt ein elfjähriger Drogenhändler aus Berlin. Werden sie gefasst, so kommen sie nicht ins Gefängnis, sondern in Einrichtungen der Jugendhilfe. Die Jugendeinrichtung des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerks im brandenburgischen Frostenwalde ist so abgelegen, dass die Straftäter zwischen 14 und 17 Jahren praktisch isoliert sind. Sie haben kaum eine Möglichkeit auszubüchsen, wollen es aber auch gar nicht.
24.08.2010
Von Cornelius Wüllenkemper

Vormittags 10 Uhr, die Sonne blinzelt durch rauschende Pappeln, es riecht nach frisch gemähtem Grass, Vögel zwitschern, ein kühler Wind streicht über das Gelände. Drei kleine Wohnhäuser, ein paar Bungalows, dazwischen säuberlich gepflegte Blumenbeete, Basketballkörbe und Grillplätze - die Szene hat etwas Idyllisches, fast wie in einer aufgeräumten Feriensiedlung. Ein Rasenmäher brummt, einige Jugendliche jäten Unkraut, andere säubern die Hauswände oder graben Blumenbeete um. "Die Jugendlichen, die hier bei uns sind, sind sämtlicher Straftatdelikte des Strafesetzbuches verdächtigt: Eigentumsdelikte, Gewaltdelikte, Sexualdelikte. Wir setzen nicht auf Bestrafungen und Sanktionen, sondern auf die Entwicklung von sozialer Kompetenz und das Erlernen eines normalen Tagesablaufs", sagt Hans Joachim Sommer, der Leiter der Einrichtung Frostenwalde. "Menschen statt Mauern" heißt das Motto dieser "Einrichtung zur Abwendung von Untersuchungshaft".

In den bundesweit zehn Einrichtungen des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerks (EJF) landen Jugendliche, bei denen sonst nichts mehr greift, die außer Kontrolle und unkontrollierbar sind. So wie der elfjährige Drogenhändler aus Berlin, den die Polizei zwölf Mal in innerstädtischen Einrichtungen unterbrachte, aus denen er jeweils innerhalb von Stunden ausbrach. Minderjährige kann man nicht einfach wegsperren. Das ursprünglich aus Hamburg stammende Modell "Kinderknast" hat auch in Berlin-Brandenburg seit Jahren keine Rechtsgrundlage mehr. In Frostenwalde, 130 km nordöstlich von Berlin, nur wenige Kilometer vor der polnischen Grenze, gibt es keine Mauern und keinen Stacheldraht, es gibt nicht einmal verschließbare Räume.

Straffer Tagesablauf

Wer hier ausbüchsen will, kann das jederzeit tun, kommt aber nicht sehr weit: Bis nach Schwedt, der nächsten Stadt, sind es 20 Kilometer, dazwischen liegen nur Felder, Wälder und Seen. Das betreute Wohnprojekt bietet 32 Plätze für straffällige Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren, die entweder vom Jugendamt geschickt werden oder direkt vom Untersuchungsrichter. Frostenwalde ist für viele die letzte Bewährung: Wer hier nicht mitmacht, sich querstellt, der landet im Zweifel im Jugendgefängnis. Vier bis fünf Monate bleiben die Jugendlichen hier, in denen sie sich an einen straffen Tagesablauf anpassen müssen: Arbeit, Haushalt, Sport, Gespräche. So sieht das Leben jenseits der Kriminalität aus.

Kurz vor dem Mittagessen sitzen drei Jugendliche in der Sonne auf der Terrasse, ein Springbrunnen plätschert, die Jungs wirken fast verunsichert von der friedlichen Atmosphäre. Über ihre Straftaten wollen sie nicht sprechen. Nur so viel: Hier ist alles neu für sie - Aufgaben erledigen, Ziele erreichen, verdiente Pausen machen, so etwas gab es in ihrem Leben bisher nicht. Aufstehen um 6 Uhr, das Frühstück zubereiten, von 8 bis 11:30 steht der Schulbesuch auf dem Gelände oder Arbeitsprojekte an, dann wird das Mittagessen angeliefert, der Küchendienst sorgt für Ordnung, und nach einer weiteren Arbeitseinheit erfolgt um 16 Uhr die Tagesauswertung mit einem Betreuer. Nach ein bisschen Freizeit und dem Abendessen beginnt die Bettruhe um 21:30 Uhr. Wer am nächsten Morgen früh aufstehen will, muss zeitig ins Bett gehen – es sind einfache Erkenntnisse, die den Jugendlichen beigebracht werden.

Auch Backen gehört dazu

Der 15-Jährige aus Berlin, der sich Ali nennt, hat heute Küchendienst. Seit fast drei Monaten wohnt er mit fünf anderen Jugendlichen in einem Einzelhaus in der Einrichtung Frostenwalde. Ali hat in einer Clique einen Nacht-Kiosk in Berlin-Neukölln überfallen, bewaffnet mit einem Messer. Es ist offensichtlich: Er schämt sich für seine Tat. "Ich hab’s auch bereut, weil, ich hab mir gedacht: Der Mann war so alt wie mein Vater. Mein Vater arbeitet auch, und dann stelle ich mir vor, jemand geht zu meinem Vater in den Laden und überfällt ihn, nimmt ihm was weg. Ist echt scheiße von mir. Eltern sind enttäuscht, traurig, meine Mutter weint jeden Tag. Aber es ist passiert, was soll ich machen? Ich kann das ja nicht rückgängig machen".

Mit seiner alten Clique will er nichts mehr zu tun haben, er ist sich sicher: Frostenwalde ist seine letzte Chance auf ein geordnetes Leben. Aber bevor er seine Lehre als KFZ-Mechaniker beginnen kann, muss Ali zuerst seinen Gesamtschulabschluss machen und beweisen, dass er dauerhaft und stabil ein geregeltes Leben führen kann. Heute steht er in der Küche des Bungalows und backt seinen ersten Mandel-Blechkuchen, den es zum Nachtisch geben soll. "Macht Spaß" meint Ali, die Arbeit im Haushalt stört ihn nicht, "kann man bestimmt mal gebrauchen", besonders wenn er später mal ganz auf eigenen Füßen steht. Wenn er allein auf seinem Zimmer ist, liest er manchmal im Koran – auf Deutsch, wie er betont. In etwa zwei Monaten, wenn alles gut geht, und der Richter ihm noch einmal eine Chance gibt, will Ali alles anders machen. Im Heim fehlt ihm am meisten seine Familie, der er so viel Kummer bereitet hat.

Lob von den Handwerkern

Knapp 20 Kilometer entfernt von der Einrichtung in Frostenwalde, in der Industriestadt Schwedt: Die Fassade eines Altenheims wird neu isoliert, mit dabei sind drei Jungs aus dem Heim für kriminelle Minderjährige. Peter, 16 Jahre alt und im Blaumann, kommt aus der Region Brandenburg. Er ist seit zwei Monaten im Programm. Über seine Straftaten will auch er nicht sprechen. Aber er wirkt offen und freundlich, mit einem breiten Grinsen im pickligen Gesicht. Heute hilft er einem Arbeiter, ganz oben auf dem Gerüst. Eigentlich fährt Peter lieber Motorrad, geht zur Jagd oder angelt. Jetzt arbeitet er in der Gruppe, zusammen mit Anderen. Bei den Arbeitern kommt er gut an, sie loben ihn: "Er macht das super, gibt sich Mühe, zeigt Interesse und ist wirklich mit Begeisterung dabei. Ja, er ist eine Hilfe. Er ist nett, freundlich und hilfsbereit."

Im Erdgeschoss schneidet derweil ein arabischstämmiger Jugendlicher mit dunkler Haut und hellen Augen Fensterbänke zu und beklebt sie mit Dämmmaterial. Der Brandenburger Bauarbeiter nickt ihm aufmunternd zu, er ist zufrieden mit der Arbeit des Jungen. Die Straftaten seines Helfers interessieren ihn nicht. Auch für die Anderen ist Kriminalität hier kein Thema, Hauptsache die Aufgaben werden erledigt. Um 16 Uhr fahren die Jugendlichen zurück nach Frostenwalde, vor dem Abendbrot treffen sich alle zur Tagesauswertung. Und dann ist auch ihre Vergangenheit wieder ein Thema.


Cornelius Wüllenkemper arbeitet als freier Journalist in Berlin.