Die Sehnsucht der Großstädter nach den Ursprüngen
Die Deutschen zieht es in die Gärten - zurück zur Natur, zu den Ursprüngen. An Kleingartenanlagen, einst als spießig verschrieen, finden jetzt auch junge Familien gefallen. Drei Beispiele aus Berlin, wie Gärten wieder in das Bewusstsein der Menschen dringen.
20.08.2010
Von Karola Kallweit

Albert Katzor hat eine gute und eine bessere Hälfte. In der guten verbringt er die meiste Zeit in seiner Wohnung. In der besseren aber, die von März bis Oktober dauert, da lebt er im Märchenland - und das ist wörtlich zu nehmen. Der 76 Jährige ist stolzer Besitzer von einer der insgesamt 1.028 Parzellen im Kleingartenverein Märchenland im Norden von Berlin. Dieses Gartenmeer am Rande der Großstadt ist das größte seiner Art. Bundesweit. Katzors Reich befindet sich im Rübezahlweg.

Ein Drittel hat er mit Gemüse und Obst bepflanzt. Das ist obligatorisch. Der Rest des Gartens ist individuell gestaltet: ein Tulpenbaum zur Straße hin, Liegeplatz, Wäschespinne und ein kleiner Teich mit japanischen Koi-Karpfen am seitlichen Rand, verschlungene Wege zwischen Gemüsebeeten im hinteren Teil und im Zentrum das Haus mit der rattanbemöbelten Terrasse. Darauf legen sie hier im Märchenland Wert, aufs Individuelle.

Wichtig: Die Dusche im Kleingarten

"Bei uns zieht der Regen immer vorbei", erklärt er spitzbübisch mit einem prüfenden Blick gen Himmel. Den Rasen, den habe er glücklicherweise heute früh schon gemäht. "Die Dusche im Kleingarten ist wichtiger als die in der Wohnung", stellt Katzor verschwitzt von der Arbeit und der Schwüle des nahenden Tiefdruckgebiets fest. Und tatsächlich: Im Haus gibt es ein Badezimmer, ein Wohnzimmer mit offenem Kamin und eine Küche. 42 Quadratmeter zweites Zuhause. Im Sommer schläft der Rentner sogar hier. Das Handy klingelt: "Wat hastn? Parzelle 367, jut, jut. Allet klar." Am anderen Ende der Leitung ist ein Gartenfreund, der ihm sein Birkenholz für den Kamin schenken will.

"Jeder hat doch ein Interesse daran, seinen Garten zu pflegen und die Freundschaften drumherum", sagt Katzor. Und Katzor versteht sich, hat eben die richtige Einstellung. Stänker gebe es überall, sagt er, aber im Grunde wolle man doch in Frieden miteinander leben. In dieser Miniaturstadt mit verwilderten Hexenhäuschen, Schwedenhütten und katalogtauglichem Einfamilientraum, mit eigenen Gesetzen, in der jeder seinen eigenen Garten hat, scheint alles möglich. Ein scheinbar perfektes Stück Erde.

Szenenwechsel: Kreuzberg. Hier besteht der ideale Boden aus zwei Schubkarren Kompost, einer Schubkarre Mutterboden, einer halben Schubkarre Lehm und einer halben Schubkarre Kameldung. Davon ist Matthias Wilkens überzeugt. Der groß gewachsene und etwas hagere junge Mann ist Gärtner im Kreuzberger Prinzessinnengarten. Donnerstags ist Mitmachtag in diesem Berliner Nachbarschaftsgartenprojekt. Anwesende können sich heute zwischen Grünkohl Pflanzen mit Matthias oder Rüben Einmachen mit Jevgenia entscheiden. Abgeklärt und mit barscher Freundlichkeit verrät Matthias das Geheimrezept für die Erde, in der die Kohlpflänzchen eine neue Heimat finden sollen. Der Kameldung, der die Mischung perfekt macht, ist die Hinterlassenschaft eines Zirkus, der auf dieser fußballfeldgroßen ehemaligen Brache am Moritzplatz überwintert hat.

Pflanzen ohne Verwurzelung

Vor einem Jahr haben der Filmemacher Robert Shaw und der Historiker Marco Clausen den Prinzessinnengarten (Foto unten: flickr/Prinzessinnengarten) gegründet. Doch Berlin ist pleite und dieser Gemeinschaftsgarten nur ein Kompromiss für den Übergang. Und dieser Kompromiss ist mobil. So wachsen in diesem besonderen Garten zwar auch Pflanzen, aber keine davon ist verwurzelt. Himbeere und Mangold gedeihen in Bäckerkörben und Reissäcken. Jederzeit bereit zum Umzug. Einzig die zwei Linden, wo sich das Bauwagen-Café der Anlage befindet, waren schon vorher da. Neben dem Gemüseverkaufe finanziert sich das Projekt auch durch das Angebot von Kaffee, Kuchen sowie Suppen und Salaten aus eigenem Anbau.

Um den Moritzplatz herum, da wo vor mehr als 20 Jahren noch die Mauer stand, leben auch sozial schwache Familien. Wenn türkische Jugendliche einfach nur kommen, um ein bisschen Zeit dort zu verbringen, oder deren Großmutter seltenes Saatgut vorbei bringt, wenn das Lebensumfeld schöner wird und die Qualität der Luft steigt, wenn besser und schlechter Gestellte aufeinander treffen, dann ist das ein soziales und politisches Statement. Für Matthias Wilkens ist der Garten sogar noch mehr.

Im Prinzessinnengarten hofft er, sich selbstständig machen zu können. Er ist der Herr über die Pflanzen. Unzählige seltene Gemüsesorten hat er hier schon herangezogen. Wenn er über seine Pflanzenwelt spricht, ist da nichts mehr außer ihm und dem Grün, das ihn umgibt. Auch er ließe sich seltenes Exemplar bezeichnen: Staudengärtner gibt es nicht viele - und noch weniger Stellen. Irgendwann hat er mal Biologie studiert. Und wieder aufgehört. Zu wissenschaftlich. Der Prinzessinnengarten soll kein Lehrbetrieb sein. Aber ein Ort zum Verwirklichen, jeder auf seine Weise.

Das Märchenland ist in verschiedene Abteilungen aufgeteilt. Gern spaziert Katzor durch seine und zeigt die vielen besonders gelungenen und die wenigen nicht ganz so gelungenen Grünparzellen. "Der gehört einem Alleinstehenden", und schaut dabei vielsagend aber nicht übel gelaunt drein. Und dann betritt er ein Prachtexemplar. Hier werkelt der vorbildliche Kleingärtner, denn Besagter ist schon mehrfach ausgezeichnet worden und hat mehr als das geforderte Drittel seines Grundstücks mit Tomaten, Kartoffeln und anderem Gemüseallerlei bepflanzt. "Dit is der Garten von unserem Fritzchen, der ist schon 78 Jahre." Auch der nächste Garten, in dem Katzor, wie er sagt, noch nie Unkraut gesehen habe, gehöre einer älteren Dame, die man meistens in gebückter Haltung antreffe.

Familien entdecken Kleingärten

Die Älteren sind immer noch in der Mehrzahl im Märchenland. Aber langsam würden auch junge Berliner Familien ihr Glück wieder im Kleingarten suchen. Gerade für die Kinder sei das doch ein Traum, meint Katzor. Aber etwas anderes treibt ihn wirklich um. Die Sache mit dem Paragraphen 20a des Bundeskleingartengesetzes. Als er 1985 Besitzer dieser Parzelle wurde, da galt noch eine besondere Regel, die das kleingärtnern in der DDR von dem der westlichen Nachbarn unterschied. Man durfte größere Häuser bauen. 42 Quadratmeter trautes Heim. Im Westen waren nur 25 erlaubt. Als mit der Wende dann das Bundeskleingartengesetz auch für den Osten übernommen wurde, fielen diese Häuser unter einen sogenannten Bestandsschutz. Über aktuelle Forderungen, diesen aufzuheben und die Kleingärtner zum Rückbau ihrer Häuser zu zwingen, kann Katzor nur den Kopf schütteln.

Von den fast 90.000 Hektar der Berliner Gesamtfläche sind etwas mehr als 9.000 Grünanlagen. Dazu zählen die vielen Parks der Stadt, die Wälder und auch die 934 Kleingartenanlagen. Immer mehr Stadtmenschen sehnen sich nach dem Ursprünglichen, das die Natur ihnen bietet. Und so treibt die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies ganz klassische und mitunter auch skurrile Blüten. Man engagiert sich in Community-Garden-Projekten, die vor allem in alternativen Stadtteilen wie Kreuzberg oder Friedrichshain zu finden sind, man feiert jedes Wochenende Grillfeste in Parks oder man gestaltet sich seine eigene Berliner Dachterrasse. Es gibt sogar eine kleine Gruppe von jungen Wilden, die sich nachts zum Guerilla-Gardening trifft, Saatgut an verschiedenen Orten mitten in der Stadt verstreut oder Blumentöpfe in U-Bahnen verteilt. Doch manchmal ist das wiedergefundene Paradies auch bedroht. Viele Kleingärtner müssen sich mittlerweile gegen die Immobilienspekulanten wehren, die in den oft zentral gelegenen Objekten gute Geldanlagen wittern.

Komposthaufen als Vorbild

Himmel und Hölle hat Rolf Mulac in Bewegung gesetzt, um einen Komposthaufen zu bekommen. Diesen braucht er nämlich für seine Arbeit mit den Patienten, die an Depressionen, Borderline, posttraumatischen Erkrankungen oder Neurosen leiden. Rolf Mulac ist Ergo-Gestaltungstherapeut an einer der ältesten Kliniken für stationäre Psychotherapie in Deutschland. Bis 2003 war die Wiegmann-Klinik in einer Villa mit riesigem Garten im Grunewald untergebracht. Heute ist sie Teil des Westendklinikums. "Sie hat ins Portfolio gepasst", sagt er nicht ohne Belustigung. Zwischen den roten Klinkerfassaden der anderen Klinikgebäude wirkt das weiß gestrichene Haus etwas fehl am Platz. Die drei Stockwerke verbergen den Blick auf eine Besonderheit des Hauses. Ein prämierter Dachgarten mit allerlei gartenarchitektonischen Finessen. Dafür sei extra eine Firma angestellt worden. Doch das Kleinod, der Komposthaufen, liegt hinter dem Haus.

"All diese Prozesse, die zur Gesundung führen, sind alltägliche Prozesse, die wir beobachten." So könne ein Mensch mit einer Essstörung am Komposthaufen begreifen, wie natürliche Prozesse funktionieren und wie normal diese sind. Die Arbeit im Garten bietet mannigfaltige Möglichkeiten zur therapeutischen Arbeit. Samen pflanzen, Unkraut jäten, geben und nehmen, natürliche Prozesse, die man Schöpfung nennen kann. Stolz zeigt Mulac einen kleinen Garten, der neben der Werkstatt in den letzten Jahren entstanden ist. Eine kleine Biosphäre mit Beeten, Totholz und Insektenhotel. Depressionen seien nicht mehr geworden in den letzten Jahren, wir nähmen sie nur bewusster wahr. Und das Paradies, aus dem wir vermeintlich vertrieben wurden, das sei eine Vorstellung, die sich durch alle Epochen ziehe. "Grün ist die Hoffnung, in der Pflanzenwelt finde ich das Ganze und Heile vor, das ich in meiner Welt nicht finde. Doch was unter der Erde zwischen den Pflanzen los ist, ist eigentlich auch ein Hauen und ein Stechen", sagt er und lächelt verschmitzt.

Im Märchenland hat es angefangen zu regnen. Es ist Mittagszeit. Vereinzelt sieht man Kleingärtner bei der Arbeit. "Kein Garten ist gleich, alle sind individuell", sagt Katzor, der weiß, dass man als Kleingärtner nicht unbedingt den besten Ruf hat. Er selbst findet die Pedanten, die am liebsten mit Zollstock die Einhaltung der Ein-Drittel-Regel nachprüfen, mindestens genauso anstrengend, wie die, die sich gar nicht bemühen. "Jeder ist König in seinem Garten." Das ist Katzors Devise. Einmal, so erzählt er, da hatte sich ein Meisenpärchen über den Sommer in seinen Garten-Briefkasten eingenistet. Damals hatte er ein Schild aufgestellt. "Bitte nicht stören, hier wird gebrütet."