Stuttgart 21: Entfremdung von Bürgern und Politik
Warum ein Bundeswehreinsatz im Irak zu Aufstand in der Öffentlichkeit geführt hätte, "Stuttgart 21" ein exemplarischer Fall für die Entfremdung zwischen Bürger und Politik darstellt und der Bildungschip ein sinnvolle politische Massnahme ist: Jede Woche stellt evangelisch.de drei Fragen an Ernst Elitz.
20.08.2010
Die Fragen stellte Bernd Buchner

evangelisch.de: Die Amerikaner ziehen sich nach sieben Jahren aus dem Irak zurück. Hatte Gerhard Schröder damals recht zu sagen: "Abenteuer machen wir nicht mit"?

Ernst Elitz: Er hatte recht mit seiner Entscheidung, keine Truppen in den Irak zu schicken. Nicht nur aus historischen Gründen, auch aus Gründen der Verankerung Deutschlands in der Völkergemeinschaft, sollte sich die Bundesrepublik nur an Einsätzen beteiligen, die von den Vereinten Nationen getragen werden. Das ist in Afghanistan der Fall, aber nicht im Irak. Deutschland hätte kaum auf die Strategie der USA Einfluss nehmen können und damit wie die USA einen starken Imageverlust erlitten. Die Fotos aus Abu Ghraib, das Video von Hubschrauber-Piloten, die Zivilisten jagen und erschiessen – diese grässlichen Bilder wären auch den Deutschen angerechnet worden und hätten bei uns zu einem Aufstand der Öffentlichkeit gegen diesen Einsatz geführt. Jede sachliche Diskussion über Auslandseinsätze der Bundeswehr wäre damit erstickt worden, auch über humanitäre Einsätze. Diese Diskussion ist schwierig genug, aber mit einer Beteiligung am Irakeinsatz wäre sie unmöglich geworden. Mit allen politischen Folgen für Berlins Rolle in der internationalen Politik.

evangelisch.de: Das Bahnprojekt "Stuttgart 21" erregt heftigen Volkszorn. Haben die bodenständigen Schwaben sich da etwas von der DDR-Demokratiebewegung abgeschaut?

Ernst Elitz: Die Schwaben mussten sich erst daran gewöhnen, dass auch ihr Landstrich mit der ehemaligen DDR und nicht mit der Schweiz wiedervereint wurde. Insoweit ist das Widerständige im schwäbischen Volkscharakter vor allem von den alemannischen Nachbarn geprägt. Im Osten sind die Bürger froh über jede Bahnstrecke, und die Thüringer werden demnächst auf die Strasse gehen, weil ihnen eine schnelle Trasse nach München gestrichen werden soll. Hätten die Stuttgarter Landesregierung und der OB der Landeshauptstadt den Bürgern gegenüber nicht nur technokratisch, verkehrstechnisch und ökonomisch argumentiert, sondern deutlich gemacht, dass in dem neuen Stadtteil kulturelle Angebote entstehen und die Stadt als kulturelles Zentrum mit einer schnellen europäischen Bahnanbindung attraktiver werden könnte, hätte manch einer von denen, die heute protestieren, im Stuttgart-21-Projekt sicher auch Vorteile erkannt. Jetzt ist es ein exemplarischer Fall für die Entfremdung von Bürgern und Politik.

evangelisch.de: Ministerin von der Leyen will Bildungschipkarten für sozial benachteiligte Kinder. Eine sinnvolle Idee oder versteckte Subvention für die Plastikindustrie?

Ernst Elitz: Auf eine Chipkarte mehr oder weniger kommt es nicht an. Aber es kommt darauf an, dass Kinder aus allen Schichten Zugang zu Kultur-, Sport- und anderen ausserschulischen Angeboten bekommen. Der Chip ist eine vom Staat finanzierte Eintrittskarte. Er nützt den Kindern direkt, und ist deshalb eine sinnvolle politische Massnahme.


Prof. Ernst Elitz, Jahrgang 1941, lebt als freier Publizist in Berlin. Nach seinem Studium der Germanistik, Theaterwissenschaften, Politik und Philosophie kam er über Stationen wie den "Spiegel" und das öffentlich-rechtliche Fernsehen zum Deutschlandradio, das er als Gründungsintendant von 1994 bis 2009 leitete. Alle seine Drei-Fragen-Kolumnen finden Sie hier auf einen Blick.