Stuttgart 21: Was tun, wenn das Volk nicht mehr will?
Massendemos, Bauplatzbesetzungen: Der Streit um den milliardenteuren Stuttgarter Bahnhof nebst Schnelltrasse nach Ulm droht zu eskalieren. Die Fronten sind festgefahren, eine Lösung ist nicht in Sicht. Was nun? Die Geschichte von Stuttgart 21 ist auch die Geschichte einer erbitterten Gegnerschaft.
17.08.2010
Von Thomas Östreicher

Gut 80 Jahre ist der Stuttgarter Hauptbahnhof alt. Doch wenn es nach dem Esslinger Wolfgang Drexler geht, wird das Gebäude in der jetzigen Form seinen hundertsten Geburtstag nicht mehr erleben. Drexler, 64, gehört seit 22 Jahren dem baden-württembergischen Landtag an, seit 44 Jahren der SPD, aber richtig rund geht es in seinem politischen Leben erst seit dem 24. Juli 2009. Kein Zweifel, dem auf Fotos mitunter etwas melancholisch wirkenden Schnurrbartträger muss der Tag, an dem er als offizieller Sprecher des laut dpa "umstrittenen Projekts Stuttgart 21" vorgestellt wurde, wie ein schwarzer Freitag vorkommen.

Ach, wenn es doch lediglich "umstritten" wäre, das Projekt, wird dessen ehrenamtlicher Cheflobbyist manchmal denken. "Die Nähe zum Bürger ist das oberste Prinzip in der politischen Arbeit von Wolfgang Drexler", steht auf seiner Internetseite. Ob sich "Mister Stuttgart 21" in diesen Wochen ein bisschen weniger Nähe der Bürger wünscht? Verständlich wäre es, denn um das Bauvorhaben mitten in der Landeshauptstadt baut sich eine Protestwelle auf, die droht, die Kraft eines politischen Tsunamis zu entwickeln.

Beispielloses Großprojekt

Die Dimensionen waren von Anfang an riesig. Käme heute ein Planer daher und würde vorschlagen, für anfangs etwa drei, aktuell mehr als vier, tatsächlich am Ende wohl acht, zehn oder zwölf Milliarden Euro einen der wichtigsten Knotenbahnhöfe Deutschlands teilweise abzureißen, komplett zu unterkellern, neue Gleise um 90 Grad versetzt zu verlegen und in eine noch zu bauende ICE-Strecke mit 57 Kilometern Tunnel durch feuchtes Berggestein münden zu lassen, würde sein Entwurf kaum den Tisch des Sachbearbeiters im Verkehrsministerium passieren. So plant man nicht im neuen Jahrtausend. Nicht mehr, seit die Staatsverschuldung mehr als eine Billion Euro beträgt, das Geld, das die Banken rettete, für Bildung und Renten, Kitas und Infrastruktur an allen Ecken fehlt.

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Aber so hat man geplant, damals in den Siebzigern und Achtzigern, als die Deutschen den Regierenden der Republik zutrauten, selbst Unmögliches wahr zu machen. Wer Kosten auch nur erwähnte, stellte sich ins Abseits und verlor Wahlen. Wir haben sie uns ja auch geleistet, die deutsche Einheit, den Berliner Hauptbahnhofmoloch auf der grünen Wiese, und die planerische Freiheit schien grenzenlos zu sein, als 1985 das Projekt Stuttgart 21 seine ersten Spuren im Bundesverkehrswegeplan hinterließ.

Viele Versprechen

"Mit meiner Arbeit will ich dazu beitragen, dass in der Öffentlichkeit die Vorteile besser wahrgenommen werden, die sich daraus für Stuttgart, die Region und Baden-Württemberg ergeben", hat Drexler im Sommer 2009 angekündigt. Und das sind in seinen Augen nicht wenige:

  • Aus dem Kopf- wird ein Durchgangsbahnhof.
     
  • Von Stuttgart nach Ulm soll eine Zugfahrt nur noch eine halbe, nach München gut eineinhalb Stunden dauern. Fluggäste sind vom Hauptbahnhof in acht Minuten am Bahnhof Flughafen/Messe. Vom Flughafen nach Nürtingen gelangt man statt in 67 Minuten schon nach acht Minuten.
     
  • Fern- wie Regionalverkehr werden schneller und besser aufeinander abgestimmt.
     
  • Durch lange Tunnels gibt es weniger Lärm.
     
  • Auf dem oberirdischen Noch-Bahngelände wird "Lebensraum in bester Lage, zum Wohnen und Arbeiten für mehr als 35.000 Menschen" geschaffen.
     
  • 4.000 neue Arbeitsplätze entstehen in Stuttgart, 17.000 insgesamt.
     
  • Schlossgarten und Rosensteinpark wachsen um 20 Hektar.
     
  • Langfristig nimmt die Stadt Stuttgart mehr Steuern ein, als sie das Bahnprojekt kostet.

Die strahlend optimistische Internetseite das-neue-herz-europas.de verspricht noch mehr Positives. Und doch: Sie wollen das Projekt nicht, die störrischen Stuttgarter. Warum bloß?

Vielleicht weil sie, wo andere von Zukunftsfähigkeit sprechen, Größenwahn sehen. Und weil die Bahnmanager, die Kommunal- und Landespolitiker den auch bei der Kanzlerin so beliebten rhetorischen Joker ein wenig zu oft gezogen und einmal zu viel gesagt haben: "Es gibt keine Alternative zu unserem Vorgehen." Dabei gibt es immer eine Alternative.

Sie können alles außer Hochdeutsch? Möglich. Auf jeden Fall können sie auch anders. Das zeigen in diesem Sommer jede Woche Tausende, nicht selten Zehntausende Demonstranten in der Stuttgarter Innenstadt (l., Foto: Franziska Kraufmann/dpa). Keine Autonomen, keine Randalierer, noch nicht einmal besonders viele linke Störenfriede, sondern ganz normale Bürger. Sie glauben nicht mehr, dass die Dinge so sein müssen, wie sie nach Ansicht mancher sein sollen.

"Jetzt wird's langsam konkret"

Gangolf Stocker ist so etwas wie der Gegenpol zu Wolfgang Drexler und mit 66 Jahren praktisch gleich alt. Fast ein Viertel seines Lebens hat der freischaffende Künstler, der schon lange nicht mehr zum Malen kommt und mit seinen weißen Haaren und Bart verblüffend dem späten Dietmar Schönherr ähnelt, gegen Stuttgart 21 gekämpft. Seit 2009, etwa seit der Zeit, als Drexler Sprecher des Projekts wurde, sitzt Stocker für das "parteifreie Bündnis Stuttgart Ökologisch Sozial SÖS" im Gemeinderat, das eine Fraktionsgemeinschaft mit der Linkspartei bildet.

Stockers Handy klingelt fast pausenlos, bis er es ausstellt, um sich bei einem Kännchen Kaffee exakt 60 Minuten Zeit zu nehmen, um dem Besucher zu erklären, was sich in Stuttgart verändert hat: nämlich das Verhältnis zur Obrigkeit. Warum es jetzt auf einmal so viele Proteste gebe? "Ja, klar, weil jetzt wird's langsam konkret", sagt er mit badischem Zungenschlag. Stocker ist in Offenburg geboren und in einer ehemaligen Eisenbahnersiedlung gleich neben den Gleisen aufgewachsen. Dass er etwas gegen Züge hätte, kann man ihm nicht unterstellen.

Seit 2007 sei im Widerstand gegen Stuttgart 21 "richtig Dampf drin. Das Projekt war ja eigentlich längst gestorben, und kleiner glaubte mehr daran, dass es noch realisiert werden würde." Dann sei der damalige Ministerpräsident Günther Oettinger zum Verkehrsminister nach Berlin gefahren und habe anschließend verkündet: Es wird gebaut. Dumm nur, dass die Gegner des Vorhabens die Zeit bis dahin genutzt hatten, um die Meinung in der Bevölkerung umzudrehen.

Die langjährige Informationspolitik: Schweigen

In diesem Punkt ist Stockers schwäbelnder Widersacher Wolfgang Drexler, der für evangelisch.de nach langem Vorlauf immerhin telefonisch für ein Gespräch zur Verfügung steht, ausnahmsweise mit ihm einer Meinung: In den Neunzigerjahren "waren fast 60 Prozent der Stuttgarter für dieses Projekt", erinnert er sich. "Und dann stellen sie jegliche Informationspolitik ein. Das war der größte Fehler der Projektpartner." Was auch heißt: Es liegt an der einst (und überwiegend nach wie vor) CDU-dominierten Politik in der Region, wenn das hier schiefgeht. Dann war es die "Maultaschen-Connection".

Ja, die Stimmung hat sich in diesen drei Jahren gedreht. Doch in dem eskalierenden Streit geht es um mehr als nur um gute oder weniger gute Öffentlichkeitsarbeit. Die Gegner um Gangolf Stocker kritzeln ihre Kommentare auf Baustellenschilder (l., Foto: dpa/Franziska Kraufmann) und sagen: Stuttgart 21 ist veraltet, ökonomisch und ökologischer Irrsinn. Bringt – wenn überhaupt – auf fast allen betroffenen Zugstrecken nur wenige Minuten Zeitgewinn. Ist bei Weitem überdimensioniert und unberechenbar teuer. Engpässe im Verkehrssystem werden dadurch nicht beseitigt, sondern erst geschaffen. S 21 führt das "neue Herz Europas" geradewegs in den Infarkt. Volkes Wille wird mit Füßen getreten. Und man kann die Bauverträge schließlich kündigen und damit sogar Geld zurückkriegen.

Die Befürworter und ihr Sprecher Wolfgang Drexler sagen: Der Ausbau der Schiene in dieser Form ist sinnvoll, umweltfreundlich und im hügeligen Süden zwangsläufig teurer als etwa im flachen Norden. In der Kostenrechnung ist bereits ein Kostenpuffer von einer Dreiviertelmilliarde enthalten. Außerdem ist das Projekt seit 17 Jahren demokratisch legitimiert - beschlossen mit erdrückenden Mehrheiten im Landtag, bei der Stadt Stuttgart, in der Regionalversammlung, im Verkehrsausschuss der Bundesrepublik Deutschland, von der EU sowieso. Und aus den Verträgen gibt es keine Ausstiegsklausel. Wer es trotzdem probiert, muss 1,4 Milliarden auf den Tisch legen.

Frage der Prioritäten - und der Stimmungen

Kleiner geht es anscheinend nicht. Gegner wie Befürworter sagen: Die geplante Schnelltrasse nach Ulm ergibt keinen Sinn ohne den neuen Bahnhof, und umgekehrt. Heißt: alles oder nichts, keine Kompromisse. Dabei lautet die zentrale Frage inzwischen: Was tun, wenn die Leute erst so spät merken, dass sie etwas nicht mehr wollen?

Politik folgt Stimmungen. Die können wechseln. Was lange glitzerte, wird plötzlich als Protz empfunden. Prioritäten ändern sich, und Politiker, die das nicht erkennen, haben ein Problem. In einem SWR-Interview ermahnte die stellvertretende SPD-Landes- und Bundesvorsitzende Hilde Mattheis ihre Partei, Stuttgart 21 zu überdenken. In der Politik sei es "nie verkehrt, sich auch noch mal zu besinnen und zu sagen, von dieser Entscheidung rücken wir ab". In Baden-Württemberg wird in sieben Monaten ein neuer Landtag gewählt; im Stuttgarter Parlament sind die Grünen bereits stärkste Fraktion.

Kein Weg zurück?

Der ICE nach Stuttgart hat am Tag des Treffens mit Gangolf Stocker 110 Minuten Verspätung wegen einer Stellwerksstörung zwischen Berlin und Wolfsburg. Rüdiger Grube, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn AG, würde vermutlich abwinken: Mit Stuttgart 21 hat das nichts zu tun, so wie die Streckenqualität und der Kauf des britischen Verkehrskonzerns Arriva seiner (gegenüber dem "Handelsblatt" geäußerten) Ansicht nach ebenfalls nichts miteinander zu tun haben.

Man kann aber auch finden, all das hat durchaus eine Menge miteinander zu tun - weil die Bahn dem großen Ziel des Börsengangs und möglichst hohen Gewinnen auf dem Weg dahin Wartung und Unterhalt ihres Bestands in einem Maß opfert, dass häufige Zugfahrer ein vielstrophiges Lied von der sich permanent verschlechternden Qualität der Bahn singen können. Stuttgart 21 wird über Jahre Geld abziehen, das sonst für die Sicherung und Verbesserung genau dieser Qualität da wäre. Was nun, wenn die Kunden das nicht mehr mitmachen wollen?

Wolfgang Drexler schiebt die Idee eines Ausstiegs so abstrakt wie es geht von sich weg: "Die Rückkehrbarmachung des Projekts - das scheint nach meiner Meinung nicht mehr möglich zu sein", erklärt er. "Wir werden ein paar tausend Leute nicht erreichen können. Die kriegen Sie auch nimmer." Dafür gebe es jetzt auch einen evangelischen Pfarrer, der sich für Stuttgart 21 einsetze und zunehmend positive Leserbriefe.

Gangolf Stocker spricht mit Sarkasmus in der Stimme von Kartellen, dem Beiratsposten des Finanzbürgermeisters in einer beteiligten Baufirma und dem "Betondenken" der Sozialdemokraten: "Bei der CDU würde ich immer sagen: Okay, da wird geschmiert. Aber bei der SPD? Die machen das umsonst, und ich versteh's gar nicht." Er grinst und schüttelt den Kopf.

Ende offen

Aus Flugblättern wurden Demonstrationen, aus Demonstrationen Bauplatzbesetzungen. Ab 1. Oktober sollen die ersten Bäume gefällt werden; eine Annäherung ist nicht in Sicht. In diesem Sommer 2010 traut sich kein Mensch vorauszusagen, wie der Konflikt um Stuttgart 21 ausgehen wird. Glaubt man den Projektmanagern, sieht das wahrscheinlichste Szenario so aus: Das Projekt bleibt im Zeitplan, irgendwann zwischen 2020 und 2030 arbeiten sich die ersten ICE-Züge die schwäbische Alb hoch, bestaunen in- wie ausländische Touristen den Hightechbahnhof der Schwabenmetropole, redet niemand mehr vom bis dahin längst vergessenen Widerstand der Tausenden.

Es sei denn - ja, es sei denn, der Widerstand gerät nie in Vergessenheit, sondern gewinnt weiter an Fahrt; den restlichen Bundesbürgern dämmert, wie viele ungleich nützlichere Investitionen wegen einer Schwabenposse ausbleiben sollen; erst die Sozial-, dann auch die Christdemokraten erkennen (und geben zu), dass sie sich um einige Zehnerpotenzen vertan haben; und die bereits heute, 2010, absehbaren technischen Probleme machen das aberwitzige Projekt endgültig zunichte.

Auch eine Option.
 


Thomas Östreicher ist freier Mitarbeiter bei evangelisch.de.