Martin Luther kehrt zu den Menschen zurück
Auf dem Wittenberger Marktplatz stehen statt des gewohnten Martin-Luther-Denkmals hunderte Plastikskulpturen des Reformators. Die Aktion des Nürnberger Kunstprofessors Ottmar Hörl löst kontroverse und überraschende Reaktionen aus. Eines zeigt sich in der Lutherstadt deutlich: dass Menschen keine Scheu vor großen Namen und vor Kunst im öffentlichen Raum haben.
14.08.2010
Von Bernd Buchner

"Ich find's genial", sagt Martina Wehner (45). Mit ihrer zehnjährigen Tochter Pauline ist die Wittenbergerin am Samstag auf den Marktplatz der Lutherstadt gekommen und steht nun zwischen rund 800 Miniaturausgaben des Reformators. "Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass es so gut aussieht." Auch Pauline macht es sichtlich Spaß, zwischen den Lutherzwergen hindurchzustapfen. Dass man dem großen Protestanten so nahe kommen, ihn anfassen kann – "toll ist das".

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Wie den Wehners geht es vielen, die die Installation des Nürnberger Kunstprofessors Ottmar Hörl in Augenschein nehmen. Mehrere hundert Menschen sind zur Eröffnung gekommen, in der Zeitung haben sie vom Streit über die Kunstaktion gelesen. Der Wittenberger Pfarrer und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer spricht von "theologischem und ästhetischem Schindluder", der Unternehmensberater Klaus Kocks äußerte, hätte Luther die Zwerge gesehen, würde er mit dem Tintenfass nach den Initiatoren werfen. Aber die Leute finden die Idee witzig, freuen sich, viele lächeln, kommen ins Gespräch.

Denkmale werden zurzeit aufgehübscht

Die große Fläche vor dem Wittenberger Rathaus wird sonst dominiert von den wuchtigen Denkmälern für Martin Luther (1483-1546) und Philipp Melanchthon (1497-1560). Seit April werden sie restauriert, um für das Reformationsjubiläum 2017 wieder richtig zu glänzen. Ganz leer wollte man den Platz in der Zeit der Aufhübschung nicht lassen, so entstand die Idee mit den Lutherzwergen (Foto: epd-bild / Ralf Maro). Sie zeigen den Reformator, wie ihn Johann Gottfried Schadow im Jahr 1821 auch als Denkmal gestaltet hat: Luther als alter Mann, seine Übersetzung des Neuen Testaments in der Hand haltend.

Für die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ist der verkleinerte und vielfältigte Luther Anlass, die örtliche Erinnerungskultur zu hinterfragen: Die Miniaturausgaben fordern nach den Worten des EKD-Wittenbergbeauftragten Prälat Stephan Dorgerloh zum Nachdenken über den Reformator und seine Verehrung heraus. Ende August erscheint ein Buch zur Aktion "Hier stehe ich ...". Darin wird auch aufgezeigt, dass der titelgebende berühmte Lutherspruch, der angeblich vom Wormser Reichstag 1521 stammt, so nie gefallen ist.

"Da muss man erstmal draufkommen"

Dorgerloh wendet sich zugleich dagegen, die Aktion theologisch zu erhöhen. Das liegt den Besuchern ohnehin ganz fern. Ronald Mikosch ist überrascht vom Anblick, der sich ihm bietet: "Da muss man erstmal draufkommen", sagt der 54-Jährige, der mit seiner Frau aus Dessau gekommen ist. "Das ist schon beeindruckend. Ich hab's mir ganz anders vorgestellt." Auch eine 56-jährige Frau aus Wittenberg, die ihren Namen nicht nennen möchte, ist angetan: "Das belebt den Marktplatz."

Nach und nach verlieren die Menschen, die anfangs noch am Rande der mit kleinen Luthers übersäten Fläche verharren, ihre Scheu und wandern durch die Reihen, lassen sich fotografieren, streifen dem Reformator über den Kopf und lächeln über die Wassertropfen, die der Regen der vergangenen Nacht an der Luthernase hinterlassen hat (Foto: Bernd Buchner). "Das ist reformatorischer Rotz", ruft ein älterer Besucher verschmitzt.

Die Farben stammen von Lucas Cranach

Für den aus Hessen stammenden Hörl, der die Nürnberger Akademie der Bildenden Künste leitet, ist die Idee des Projekts damit schon aufgegangen: "Luther hat sich nie als Denkmal gesehen, sondern als ganz normaler bürgerlicher Mensch - der auch bei den Menschen bleiben wollte." Für Größe und Farbe der Figuren hat er plausible Erklärungen: Die Höhe von einem Meter ist das Maximum, um noch aus einer Naht gießen zu können. Und die etwas düster wirkenden Farben purpurrot, kobaltblau, moosgrün und schwarz hat der Künstler von Lucas Cranach entlehnt, einem weiteren "Weltstar" aus Wittenberg, wie er sagt.

Die Menschen können also lernen, dass ihnen Luther gar nicht so fern ist, wie sie glauben. Dass er auch nur ein Mensch ist. Und dass er aus technischen Gründen etwas schrumpfen muss. Wittenbergs Oberbürgermeister Eckhard Naumann (SPD) ruft noch einmal die langen Diskussionen in Erinnerung, die den Projekt vorausgingen: "Darf man das? Wird man Luther damit gerecht? Verunglimpft man ihn? Ist das Kunst oder nicht?" Die Debatte darüber sei gut und richtig. "Luther kommt zu uns, bleibt nicht oben auf dem Sockel."

Schorlemmer: Geschmackloser Ablasshandel

Wer will, kann sich den Reformator sogar nach Hause nehmen und in den Garten stellen. Für 250 Euro sind die Figuren zu haben. Hörl (Foto: Bernd Buchner), der die rund 250.000 Euro teure Aktion selbst finanziert hat, nennt das einen fairen Preis. "Dafür bekommen die Leute ja auch etwas." Schorlemmer nennt das polemisch einen "geschmacklosen Ablasshandel". Ein Dornn im Auge dürfte dem Geistlichen deshalb die Galerie sein, die nicht weit vom Marktplatz eingerichtet wurde. Dort kann man auch andere Hörlfiguren erstehen – Dürerhasen, Hitlerzwerge, Hunde, Papageien.

Der geschrumpfte Luther tritt währenddessen seine Reise um die Welt an – so wie damals die Ideen der Reformation. Nach Thailand und Australien ist er bereits geliefert worden, aus den USA gibt es Bestellungen, ein Exemplar steht im Arbeitszimmer des Erzbischofs von Finnland, Kari Mäkinen. "Sie können den Nutzen von Kunst und Kultur nicht ausrechnen", ruft Ottmar Hörl den Besuchern zu. "Sie gehen alle mit einem Erlebnis nach Hause und wissen nicht, was Ihr Gehirn daraus macht." Dorgerloh berichtet von einem blinden Mann, der sich die Plastikfigur ertastete und sagte: "Jetzt weiß ich endlich, wie Luther aussieht."

Die Aktion "Martin Luther: Hier stehe ich ..." ist bis 12. September 2010 auf dem Wittenberger Marktplatz zu sehen. Über eine Verlängerung denken die Initiatoren bereits nach. Unter dem Titel "O-Ton Luther" gibt es während der Ausstellung täglich vor Ort eine Textlesung mit Musik von Martin Luther (Montag bis Samstag 17.45 Uhr, Sonntag 12 Uhr). Das Begleitbuch zur Kunstaktion, das auch Fotos von der Eröffnung enthält, ist ab 26. August zum Preis von 12,80 Euro erhältlich.


Bernd Buchner ist Redakteur bei evangelisch.de und zuständig für die Ressorts Politik und Religion.