Wer hat Angst vor Street View? Ein Selbstversuch
Der Blick über den Gartenzaun und ins Wohnzimmer, das Ende der Privatsphäre, der Datenschutz-GAU - all das verbindet man hierzulande mit Googles angekündigtem Street-View-Dienst, der Panoramafotos aller deutschen Straßen gratis im Netz anbieten soll. Was ist dran an der Aufregung?
12.08.2010
Von Thomas Östreicher

Ich gebe zu: Selten in meinem Leben habe ich so verblüfft geschaut wie nach dem ersten Aufruf des Google-Earth-Programms, sobald mir ein schnellerer Rechner und eine passend schnelle Netzverbindung zur Verfügung standen. Wie wohl jeder Google-Nutzer habe ich zuerst nach mir selbst gesucht und war fassungslos, meine rot-weiß-gestreifte Balkonmarkise in der Sommersonne leuchten zu sehen. Aus der Vogelperspektive und nicht besonders scharf, aber immerhin.

Die Welt auf der Festplatte

Als Google Street View angekündigt wurde, spätestens aber als ich die ersten Autos mit der seltsamen Kamerakonstruktion auf dem Dach durch die Straßen schleichen sah, wurde mir allerdings mulmig. Was fotografieren die da? Wen bei welcher Verrichtung? Die Beteuerungen des amerikanischen Konzerns, Gesichter, Autonummern und vergleichbar private Details zu anonymisieren, nahmen mir das Unbehagen nicht.

Im Gegenteil. Ich zeigte großes Verständnis für die schleswig-holsteinischen Provinzbürgermeister, die gegen die digitale Erfassung ihrer Kommune Rechtsmittel einlegten. Google hat sich auch zum Ziel gesetzt, alle Bücher der ganzen Welt digital verfügbar zu machen. Muss die ganze Welt auf den Festplatten immer weiter wachsender Megaunternehmen gespeichert werden?

Eine Flut von Panoramabildern

Allerdings - praktisch ist der Straßenblick namens Street View ja schon, wie ein kleiner Selbstversuch beweist. Es ist lange her, seit ich meine Freunde in Kalifornien das letzte Mal besucht habe. Bereits die Vogelperspektive von Google Earth zeigt mir Erstaunliches: San Franciscos Turk Street ist offenbar inzwischen eine Einbahnstraße geworden. Aha. Leider wird das Aufnahmedatum nicht genannt.

Die Option "Street View" angeklickt, und Unmengen an Kamerasymbolen tauchen auf; jedes einzelne steht für ein Panoramabild der Straße oder der Kreuzung. (Ein alternativer Weg zur Street-View-Ansicht ohne Programminstallation von Google Earth führt über Google Maps: einfach ins Suchfenster eine beliebige Adresse eintragen.)

Die Auflösung der Fotos ist erstaunlich gut. Trotz unkenntlich gemachter Nummernschilder und Gesichter sind etliche Details zu erkennen - und Schlüsse zu ziehen wie der, dass in den kleineren Nebenstraßen um die Ecke einige Häuser inzwischen recht heruntergekommen wirken.

Mal eben auf einen Sprung nach Schweden

Einer spontanen Eingebung folgend, erinnere ich mich an C., die mit ihrer Familie vor einigen Jahren von der amerikanischen Westküste in eine Kleinstadt bei Stockholm gezogen ist. Ich war noch nie dort, und die Satellitenaufnahmen sind wenig aussagekräftig.

Inzwischen war Street View aber auch schon in der schwedischen Provinz unterwegs, und ich kann mir C.s schmuckes gelbes Haus im Detail ansehen, die Straße entlangfahren, wenn ich möchte und mich immer wieder rundum orientieren. Na, so beschaulich hätte ich mir den Ort gar nicht vorgestellt.

Apropos beschaulich: Zu gern würde ich mir den idyllischen Friedhof in Capoliveri auf Elba noch einmal ansehen. Google allerdings hilft nicht dabei - anders als in weiten Teilen des italienischen Festlands waren die Kamerawagen auf Elba noch nicht unterwegs. Und vor dem Architektur-Labyrinth Venedigs haben die Amerikaner offenbar vollends kapituliert.

Ein wenig Selbsterkenntnis und viele Fragen

Ja, doch, ich gebe zu: Das Reisen mit Google macht Spaß, gerade an verregneten Sommernachmittagen. Ich gebe auch zu: Ich möchte nicht, dass mein Haus mit der hässlichen Dauerbaustelle vor der Tür jahrelang für meine Adresse und damit auch für mich im Internet steht. Ich habe gegenüber Google der Abbildung bei Street View auf einer eigens eingerichteten Webseite widersprochen. Und ich gebe zu: Bei anderen gucken, aber selbst nicht gesehen werden wollen, ist mindestens inkonsequent. So wie all jene Telefonbesitzer, die der Rückwärtssuche ihres Namens bei vorliegender Anschlussnummer widersprochen haben. Wer das tut, nutzt den Dienst höchstwahrscheinlich selbst gelegentlich.

Was Street View angeht, plagt mich allerdings weniger die Sorge vor Einbrechern als die Angst vor den legalen Datennutzern, vor allem Google selbst. Schon Googles Fotosuche ist gruselig. Die Verknüpfung mit öffentlichen Telefonbuchdaten und einer Rundumschau vor meiner Haustür wäre eine logische Folge der bestehenden Möglichkeiten.

Wollen Voyeure gesehen werden?

Den Facebook-Eintrag mit den feucht-fröhlichen Partyfotos meines Namensvetters und der Hobby-Angabe "Festivals, Partys, Sessions, chillen, freunde, und so vieles" muss ich tolerieren. Aber längst gibt es frei verfügbare Software, die Gesichter auf Fotos identifizieren kann - ungemein praktisch, wenn man alle Schnappschüsse von Cousine Elke auf dem eigenen Rechner zusammenstellen möchte, ohne stundenlang suchen zu müssen.

Mit diesem Dienst im Internet wird die Fantasie Purzelbäume schlagen: Künftig fotografiere ich also heimlich die gut aussehende Dame am Cafétisch gegenüber, lade das Bild mit meinem internetfähigen Smartphone auf die (noch fiktive) Seite "Google Nose-U", und ich bekomme gleich ein ganzes Dossier zu ihr zusammengestellt inklusive eines gestochen scharfen Fotos von ihrem Hauseingang. So einfach kann Stalking sein.

Frage: Wollen wir das? Und kümmert es jemanden, ob wir das wollen?


Thomas Östreicher ist freier Mitarbeiter bei evangelisch.de und kann sich trotz all dieser altmodischen Datenschutzbedenken ein Leben ohne Internet nur schwer vorstellen.