"Jeden Abend weint er im Bett. Er möchte so gerne bei mir sein", sagt Paula Stolze. Sie sitzt im Stuhlkreis neben Dennis Seidel. Sie halten Händchen, tuscheln und necken sich: Verliebte. Später wollen sie heiraten und Kinder bekommen. Die 20-Jährige und der 30-Jährige sind geistig behindert. In dem Seminar, an dem sie mit fünf anderen Behinderten teilnehmen, geht es um Nähe, Partnerschaft, Zärtlichkeit und Sexualität. Fragen nach Verhütungsmöglichkeiten werden besprochen, ein respektvoller Umgang in Partnerschaften wird in Rollenspielen geübt.
Seit knapp zwei Jahren bietet das Familienplanungszentrum in Hamburg Altona in dem Projekt "Eigenwillig" Seminare für Menschen mit Behinderungen an. Ziel ist, Menschen mit Behinderung selbstbestimmte Sexualität und Familienplanung zu ermöglichen. Gefördert wird "Eigenwillig" von der Aktion Mensch, dem Hamburger Spendenparlament und der Andrea-Brudermüller-Stiftung. Die Resonanz auf das Projekt überstieg die Erwartungen, sagt die Projektleiterin Maria Gies.
"Partnerschaft unter Behinderten ist ein Tabu"
Über 100 Einzel-, Paar- und Teamberatungen führte das Projektteam um die Sexualpädagogin Gies bisher. Mit 65 Prozent waren die meisten Personen, die zur Beratung kamen, Menschen mit geistiger Behinderung. Das Projektteam nennt sie Menschen mit Lernschwierigkeiten. Denn dieser Begriff, sagt Gies, sei weniger diskriminierend und definiere Menschen nicht über ein Defizit, sondern über ihren jeweils besonderen Unterstützungsbedarf.
Bei den Menschen, die professionell mit der Betreuung von Behinderten zu tun haben, hat sich weitgehend die Auffassung durchgesetzt, dass diese wie alle anderen einen Liebespartner, Zärtlichkeit und Sexualität wünschen. In vielen Behinderteneinrichtungen wird Rücksicht genommen auf die partnerschaftlichen und sexuellen Bedürfnisse der Bewohner. Die Mitarbeiter unterstützen Partner- und Elternschaften, organisieren Sexualberatung und ermöglichen sogar Besuche bei Prostituierten.
Vor zwölf Jahren gründete Bernd Zemella in Hamburg die "Schatzkiste", Deutschlands erste Partnerschaftsagentur für Menschen mit geistigen Behinderungen; mittlerweile gibt es 20 Ableger in mehreren Städten. Zemella erfüllt Lernbehinderten, Epileptikern, Schizophrenen, Autisten oder Manisch-Depressiven ihren Traum von Liebe und Zweisamkeit. Rund 70 Paare hat er bisher erfolgreich zusammengebracht. Dennoch ist er mit der gesellschaftlichen Situation noch nicht zufrieden: "Viele sind immer noch der Ansicht, dass nur ein gesunder Mensch ein Recht auf Partnerschaft und Sexualität hat. Partnerschaft unter Behinderten ist ein Tabu."
Leichte Sprache und spielerische Aufklärung
Zu "Eigenwillig" kommen Menschen mit ganz unterschiedlichen Problemlagen. Maria Gies berichtet von einer jungen Frau mit Down-Syndrom, die in die Beratung kam. Ihre Mutter schicke sie, es gehe um eine gewünschte Sterilisation. In der Beratung stellte sich dann aber heraus, dass sich die junge Frau keineswegs sterilisieren lassen wollte, sondern ihre Homosexualität entdeckt hatte und sich ihr viele Fragen stellten.
Diskretion ist bei den intimen Gesprächen selbstverständlich. "Wir haben auch eine Schweigepflicht gegenüber gesetzlichen Betreuern und Angehörigen", sagt Maria Gies.
Der Sexualpädagoge Ralf Specht leitet bei "Eigenwillig" das Seminar, welches das Pärchen Paula und Dennis besucht. Wichtig bei seiner Arbeit sei eine leichte Sprache und spielerische Aufklärungsprozesse, erklärt Specht. So macht Paula gerade bei einer Theater-Szene zum Thema Liebeserklärungen mit, Dennis schaut konzentriert zu. Ein anderer Teilnehmer will aber lieber nicht hingucken und zieht sich verschämt den Pullover vors Gesicht. Gut kommt das Sex-Quiz an: Ist Selbstbefriedigung schädlich? "Nein", brüllt ein Teilnehmer, ohne zu zögern.